Sechs Kandidierende für das EU-Parlament haben sich in Wildau zur Demokratie in Europa, über Wege zum Frieden und die Pläne für die nächsten fünf Jahre ausgetauscht. „Glasklare“ Positionen trafen auf „populistische“, fand das Publikum.
Von Birgit Mittwoch
Noch ist der Saal im Volkshaus Wildau nur spärlich gefüllt, Plätze werden zögerlich besetzt, Wasserbecher gefüllt, jetzt erst mal Smaltalk. Marie Glißmann nutzt die Chance, einige Anwesende persönlich zu begrüßen: „Hallo, ich bin Marie Glißmann, stellen Sie bitte alle Fragen zur Europawahl, die Sie haben. Ich komme aus der Prignitz, wohne in Frankfurt/Oder. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.“ Die junge Frau in roter Jacke geht von Reihe zu Reihe, gibt vielen die Hand, stellt sich weiter vor.
Marie Glißmann ist eine von sechs Kandidatinnen und Kandidaten aus Brandenburg für die Europawahl, die an diesem Abend zum Wahlforum eingeladen wurden. Sie tritt für die SPD an. Zur Podiumsdiskussion gebeten hat die Europa-Union Dahme Spreewald in Person von Oliver Strank. „Uns ist es wichtig, nochmals auf die hohe Bedeutung der Europäischen Union als Friedensprojekt aufmerksam zu machen. Wir wollen Sie heute mobilisieren, am kommenden Sonntag zur Wahl zu gehen“, so der Co-Vorsitzende der Europa-Union des Landkreises zu Beginn der Veranstaltung.
Gut 40 Zuhörende haben sich inzwischen eingefunden. Landrat Sven Herzberg berichtet erfreut über gute Partnerschaftsbeziehungen des Landkreises mit Regionen in Polen und Frankreich: „Vielfalt, Toleranz und Austausch über die Grenzen hinweg sind uns sehr wichtig.“ Als Frank Nerlich, Bürgermeister von Wildau, mit Sorge über die zunehmende Demokratiegefahr in Europa spricht und dabei die Teilnahme der AfD als einer Partei, die von Verfassungsschutz beobachtet wird, thematisiert, kommt es zu Zwischenrufen aus dem Publikum: „Das kann nur ein Gericht feststellen. Wir beobachten euch auch.“
Gut 30 Minuten später, dann die Podiumsdiskussion. Oliver Strank bittet Katja Plate (CDU), Heiner Klemp (Grüne), Marie Glißmann (SPD), Martin Günther (Linke), Johannes Dallheimer (FDP) und Mary Khan (AfD) an die Stehtische. Seine erste Frage an alle: „Wie wollen Sie die Demokratie in Europa wieder auf Vordermann bringen?“
Katja Plate, die CDU-Kandidatin, lobt zuerst die vielfältigen Grundrechte in der EU, die eine gute Zusammenarbeit seit Jahren möglich machen. Für Marie Glißmann steht die Sorge um das Schwinden des Vertrauens in die Demokratie im Vordergrund. Sie meint, die EU brauche „mehr Sitze im Parlament, mehr Macht“. Heiner Klemp (Grüne) kritisiert dagegen die Frage des Moderators: „Demokratie zu stärken, liegt in der Verantwortung des gesamten Volkes und darf nicht nur an die EU-Abgeordneten delegiert werden.“ Warum kümmern sich einige Leute so wenig um Demokratie, fragt dagegen Martin Günther von den Linken. Er sieht da auch soziale Belange als Ursache. „Leute mit weniger Einkommen gehen nicht so oft wählen, da muss auch an der sozialen Gerechtigkeit gearbeitet werden“, meint er. Die AfD-Kandidatin Mary Khan bezeichnet sich und ihre Partei als „glühende Europäer“, ist jedoch gegen die EU als „Bürokratiemonster“.
„Rücken wir doch ein bisschen mehr zusammen“, meinte Marie Glißmann nach der ersten Diskussionsrunde und holt damit auch die bisher einzeln stehende AfD-Kandidatin näher an die übrigen EU-Kandidaten heran. Fairness eben.
Mary Khan (AfD) und Johannes Dallheimer (FDP).
Martin Günther (Linke) und Heiner Klemp (Grüne).
Marie Glißmann (SPD) und KatjaPlate (CDU). Fotos: Birgit Mittwoch
„Krieg oder Frieden in Europa, wo geht es hin? “ – Das zweite große Thema an diesem Abend wird von Moderator Oliver Strank an die EU-Kandidierenden weiter gereicht. Das „Bürokratiemonster EU“ habe es immerhin geschafft, über viele Jahre Frieden unter einst verfeindeten Staaten zu garantieren, ist sich Katja Plathe sicher. Sie hält zudem eine „Verteidigungs-Union“ für wichtig. Marie Glißmann, nach eigenen Angaben ehemalige Friedensdienstleistende in Belarus, setzt vorrangig auf Diplomatie als Mittel zur Beendigung des Ukraine-Krieges, hält aber auch an ziviler und militärischer Unterstützung der Ukraine fest. „Später, als Untermauerung eines starken Friedens, kann man Brücken in die Ukraine und nach Russland bauen, z.B. mit einer Erweiterung des Erasmus-Programmes in diese Länder.“, so die SPD-Kandidatin.
Für Heiner Klemp ist vor allem die weitere militärische Hilfe für die Ukraine wichtig: „Mann muss der Ukraine helfen, sich selbst zu verteidigen.“ Außerdem, so der Kandidat der Grünen, seien Verhandlungen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine nur möglich, wenn auch beide Seiten, also die Ukraine und Russland, dazu bereit seien. Diese Voraussetzung sähe er auf russischer Seite derzeit nicht. „Wir müssen wegkommen vom militärischem Tunnelblick“, hält Martin Günther (Linke) dagegen. Er beklagt, dass bisher alle Friedensinitiativen, initiiert u.a. vom Papst und Brasilien nicht aufgegriffen wurden. FDP-Kandidat Johannes Dallheimer meint, dass eine starke Verhandlungsposition der Ukraine nur durch deren militärische Stärke erreicht werden könne und spricht sich für eine weitere militärische Unterstützung des überfallenen Landes aus. Mary Khan unterstreicht vor Ort in Wildau die bekannte AfD-Position zum Ukraine-Krieg: „Wir wollen mehr Diplomatie, sind gegen Waffenlieferungen“.
„Wo steht Europa im Jahr 2029?“ – Auf die Antworten der EU-Kandidaten und - Kandidatinnen ist nicht nur der Moderator des Wahlpodiums Oliver Strank gespannt.
Eine Europäische Union als reine Wirtschafts- und Interessenvereinigung sieht Mary Khan zukünftig. Die Flüchtlingspolitik müsse dann wieder rein national bestimmt werden, „die Zerstörung unserer Wirtschaft durch die grüne Transformation beendet werden“, fordert sie. Die FDP-Position formuliert Johannes Dallheimer: „Vor allem die Grundlagenforschung muss dann zurück nach Europa geholt sein.“ Martin Günther hat gleich mehrere Zukunftsvisionen für eine EU im Jahr 2029: Die EU-Mindestlohnrichtlinie von mindestens 15 Euro sollte dann durchgesetzt sein. Eine Energierichtline basierend auf preiswertem Ökostrom biete gleiche, niedrige Preise in allen EU-Mitgliedsstaaten und ebenfalls gäbe es in allen EU-Ländern einen kostenlosen ÖPNV.
„Ich wünsche mir, dass wir in 5 Jahren weiter sind mit der EU-Aufnahme von z.B. Georgien“, schaut Heiner Klemp in die EU-Zukunft. Ebenfalls hofft er, dass dann das „Einstimmigkeitsprinzip“ in der Europäischen Union zugunsten einer soliden Mehrheitsentscheidung verändert werde. SPD-Kandidatin Marie Glißmann meint, spätestens 2029 müsse endlich wieder Frieden herrschen in Europa und dass die sogenannten „Global Player“, wie Google und Co. dann auch tatsächlich Steuern zahlen müssten. Katja Plate hofft, dass der ökologische und der digitale Wandel dann geschafft wurde.
Die Podiumsdiskussion fand im kleinen Saal des Volkshauses Wildau statt. Foto: Birgit Mittwoch
Zur Halbzeit dieses EU-Wahlforums am Montag-Abend in Wildau gibt es eine kurze Frage-Antwort-Runde. Moderator Oliver Strank startet diese nach dem Zufallsprinzip, generiert durch Namenszettel, die jeder der Kandidierenden ziehen muss. SPD-Kandidatin Marie Glißmann ist als Erste mit der Antwort auf die Frage: „Welches EU-Land ist für Sie Vorbild?“ an der Reihe. „Eindeutig Estland mit seiner vorbildlichen Digitalisierung der Verwaltung“, antwortet sie sofort. Bei der Frage nach dem gewünschten Ausgang der Fußballeuropameisterschaft muss sie dagegen passen: „Das ist nicht mein Metier, es ist mir generell zu viel Commerz im Profisport dabei.“
Die nächste Kandidatin, ausgewählt nach dem Zufall, ist Katja Plate (CDU). Auf die Frage: „Was halten Sie vom Green Deal?“, antwortet sie, dass CO2-Neutralität schon wichtig sei, aber vielleicht sei das ja auch mit Verbrenner-Autos möglich, das komme auf den technologischen Fortschritt an. Eine Zusammenarbeit mit der AfD im EU-Parlament, so die 2. Frage an sie, hält sie für ausgeschlossen.
Der Linken-Kandidat Martin Günther ist der dritte, dessen Name nun auf dem gezogenen Zettel steht. Die Frage an ihn: „Was sollte in der EU abgeschafft werden?“ Er hält vor allem die „Frontex“, die europäische Grenz- und Küstenwache, in ihrer jetzigen Form für nicht verzichtbar, aber für dringend reformbedürftig.
Auf dem nächsten Namenszettel steht der von Heiner Klemp (Grüne). „Sind Sie für den Abschuss von Wölfen in Deutschland?“, fragt ihn Oliver Strank. Für eine generelle Freigabe des Wolf-Abschusses sei er nicht, meint Heiner Klemp, aber für eine Regulierung des Bestandes. Und wie hält er es mit dem Zeigen der „Deutschland-Fahne“ zur Fußballeuropameisterschaft? Zur Fahne der Republik stehe er, meint Heiner Klemp, zu andern „Varianten“ dagegen nicht.
Gemäß Zufallsprinzip ist nun FDP-Kandidat Johannes Dallheimer an der Reihe: Wie steht er zu einem generellen Tempolimit auf Autobahnen? Er sei gegen die Einschränkung solcher Grundrechte, meint der, die meisten Unfälle passierten sowieso auf Landstraßen.
Die letzte im der kurzen Frage-Antwort-Runde ist Mary Khan (AfD). „Warum kandidieren Sie für die Europawahl, obwohl die EU von der AfD eigentlich abgelehnt wird?“, fragt Moderator Oliver Strank. „Wir wollen lediglich den jetzigen Zustand der Europäischen Union ändern, plädieren für eine EU als Interessen -und Wirtschaftsgremium“, meint Mary Khan. Wie genau dieses aussehen soll, sagt sie nicht.
Leider ist nun nur noch wenig Zeit für Fragen aus dem Publikum. Ein Mann fragt nach der Meinung der Kandidierenden zu einer eigenen europäischen Armee. Diese wird von den Anwärtern von SPD, CDU und Grüne generell befürwortet. „Das wäre die Krönung des Friedensprojektes Europa“, bekräftigt Heiner Klemp seine Haltung dazu. Martin Günther von den Linken lehnt eine europäische Armee dagegen ab, da deren Kontrolle durch das EU-Parlament derzeit nicht möglich sei. Mary Khan hält es für besser, die nationale Armee, also die Bundeswehr zu stärken, als eine europäische Armee auszubauen.
Nicolas Laurin Plank aus dem Auditorium interessiert die Haltung der EU-Kandidaten und -Kandidatinnen zum Beitritt der Ukraine in die Europäische Union. Generell wird dieser von den meisten im Podium befürwortet. Aber, so Martin Günther (Linke), müsse dabei der Rechtskanon der EU dringend eingehalten werden. Es dürfe keine Sonderbehandlung der Ukraine gegenüber anderen EU-Aufnahmekandidaten geben, ist sich auch Marie Glißmann sicher.
„Das war eine sehr aufschlussreiche, spannende Podiumsdiskussion“, meint nach mehr als zwei Stunden Paul, ein junger Mann aus dem Publikum. Die Forderungen und Haltungen der einzelnen EU-Kandidierenden seien in der Regel „glasklar“ zum Ausdruck gekommen. Über die seiner Meinung nach eher populistischen Antworten der AfD-Kandidatin ärgert sich dagegen Nicolas Laurin Plank. Sehr zufrieden mit dem Gespräch zur EU-Wahl zeigt sich Organisator und Moderator Oliver Strank. „Ich habe viele gute Rückmeldungen bekommen und allein die Tatsache, dass nach mehr als zweieinhalb Stunden noch Fragen aus dem Publikum kamen, zeigt das große Interesse an diesem Wahlpodium.“
INFO: Europa-Union:
Die Europa-Union Deutschland (EUD) ist eine Bürgerinitiative für Europa in Deutschland. Unabhängig von Parteizugehörigkeit, Alter und Beruf engagieren sich in der EUD fast 17.000 Mitglieder für die europäische Einigung. Die Europa-Union Dahme Spreewald wurde im Sommer 2023 gegründet. Ziel des Vereins ist es, die Europäische Gemeinschaft als politisches Projekt für Frieden und Demokratie im Landkreis zu verankern.
EXKURS: Was Brandenburger EU-Kandidierende zum Thema Lausitz und Wirtschaft sagen
Auf Einladung der Industrie- und Handelskammer Cottbus haben kürzlich weitere bzw. teils die gleichen Kandidierenden über das Thema Wirtschaft diskutiert. Zu den drei Themenkomplexen Transformation, Bürokratie und Fachkräftemangel wurden jeweils verschiedene Fragen an die Podiumsgäste verlost.Wir dokumentieren die wichtigsten Thesen (Auswahl).
Mit dabei waren (v.l.): Viviane Triems (Grüne), Martin Hoeck (FDP), Marie Glißmann (SPD),
Dr. Christian Ehler (CDU), Mary Khan-Hohloch (AfD), Martin Günther (Linke). Foto: IHK
THEMA: Transformation zu grüner Energie
Die Lausitz ist eine „Kohleregion mit Ausstiegsszenario“, so Moderator André Fritsche. Es gebe starke Vorgaben von Bund und Ländern, wonach Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen sei, womöglich sogar 2042. „Die Kammern haben Zweifel an diesem Ziel“, sagte er. Das Projekt „Net Zero Valley“ in der Lausitz lasse schnellere Genehmigungsverfahren, Investitionen und Qualifizierungsangebote erwarten.
Wie können Lausitzer Unternehmer von der Transformation profitieren?
Marie Glißmann (SPD): Unternehmen brauchen Verlässlichkeit und gute Ansprechpartner, jemanden, der diszipliniert ist. Es gibt bereits Brücken aus der Lausitzrunde in die EU. Der Fokus muss auf Qualifizierung und Ausbildung gelegt, Zuwanderung muss unterstützt werden.
Warum kommen von drei Milliarden Fördermitteln aus dem Just Transition Fund (JTF) nur 170 Millionen bei kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) an?
Christian Ehler (CDU): Der Rest geht nicht woanders hin, sondern in Qualifizierung und Technologietransfer. Wichtig ist nun, den JTF für das Net Zero Valley zu erhöhen, weil da die schnellste Transformation zu erwarten ist. Man muss weiter die Antragstellung vereinfachen.
Was mit der Wettbewerbsfähigkeit, wenn sich Unternehmen nicht transformieren?
Mary Khan-Hohloch (AfD): Wir sehen die Zukunft in der Kernenergie, wir müssen die Werke wieder ans Netz setzen. Frankreich setzt auch weitere Atomkraftwerke ein. Man muss weiter an grüner Energie forschen, aber dabei nicht Bürger und Wirtschaft belasten.
Wie schaffen wir es, den Unternehmen die Förderlandschaft zu vermitteln?
Martin Günther (Linke): Wir brauchen Innovationen und mehr öffentliche Forschung. Dabei müssen wir den Open-source-Ansatz verfolgen und Wissen allen zur Verfügung stellen, das erfordert andere Prozesse. Es werden nicht nur einzelne Unternehmen Dinge umsetzen, sondern alle gemeinsam.
Wie vertreten die EU-Abgeordneten die Lausitz als Ganzes, bestehend aus brandenburgischem und sächsischem Teil?
Viviane Triems (Grüne): Aus EU-Sicht ist die Lausitz eine ganze Region. Außerdem müssen wir die polnischen Gebiete mitdenken. Der JTF ist immerhin in beiden Bundesländern verfügbar.
Wie ist es bei schwankenden Energiepreisen zu schaffen, die Produktion hier zu halten?
Martin Hoeck (FDP): Klar ist, wir müssen unabhängig von russischem Gas werden, wir brauchen Energieautarkie. Aber es ist nicht gut, gleichzeitig aus Kohle und Kernkraft auszusteigen, was nicht heißt, dass wir neue Kernkraftwerke bauen wollen.
Publikumsfrage: Viele Menschen sind nicht überzeugt von EU, aber Dinge wie die Euro-Palette sind schon sinnvoll. Aber warum schreibt die EU den Landwirten vor, was sie anzubauen haben?
Ehler: Wir müssen da regulieren, wo es EU-weit besser ist, und da nicht, wo wir es allein besser hinbekommen. Das gilt beispielsweise für internationale Marktstandards: Alleine als Land hätten wir dabei gar keine Relevanz.
Publikumsfrage: Beim Green deal gibt es fünf Parteien, die dafür sind. Wie ist das in anderen Ländern?
Triems: Wir müssen alle unseren Beitrag leisten, die Emissionen zu senken. Das bekommen wir nur gemeinsam hin.
Hoeck: Der Green deal ist gut. Trotzdem wurde in vergangenen Jahren vieles überreguliert. Wir brauchen eine Regulierungspause. Wir setzen da mehr auf den CO2-Zertifikate-Handel.
Glißmann: Wir als Deutsche haben da nicht gerade das Vertrauen geweckt, weil wir Nordstream gegen unsere Nachbarn durchgesetzt haben. Wir brauchen mehr Anreize zum Ausbau der Erneuerbaren.
Ehler: Die CO2-Reduktion ist eine Generationenaufgabe. Wir müssen technologie-offener sein. Es braucht mehr Wettbewerb für Unternehmen und weniger Regulierung. Es muss die praktische wirtschaftliche Seite zum Tragen kommen.
Günther: 100 Konzerne erzeugen 70 Prozent der Emissionen. Deswegen wird der Klimawandel zur größten sozialen Herausforderung. Wir haben den Green Deal wegen der fehlenden sozialen Dimension kritisiert.
Unternehmen erwarten ein klares Ja von Europa zur Wirtschaft. Ist das zu vernehmen?
Viviane Triems (Grüne): Der Green deal wirkt, das müssen wir fortführen. Bürokratie kommt jedoch nicht nur durch den Green deal. Die „KMU first“-Strategie bleibt wichtig, und es bleiben Ausnahmen für KMU wichtig. Wir brauchen einmalige Behördengänge für die Unternehmen.
Das EU-Lieferketten-Gesetz soll Standards zu Menschenrechten und ökologischen Maßgaben festlegen. Das Problem: Große Unternehmen geben das an KMU als Nachunternehmer weiter. Wie sollen die Ziele umgesetzt und trotzdem KMU entlastet werden?
Marie Glißmann (SPD): Es gibt viele Unternehmer, die das schon berücksichtigen, z.B. Tchibo. Aber wir sehen, dass KMU dadurch stärker belastet werden, das müssen wir nachjustieren. Das EU-Parlament ist oft schnell, Rat und Kommission jedoch nicht.
Wie kann ein ausgewogener Interessensausgleich zwischen Verbraucherschutz und Innovationsförderung gelingen, gerade beim Thema Künstliche Intelligenz (KI)?
Mary Khan-Hohloch (AfD): Das Thema KI gehört in die Hände der Nationalstaaten, diese müssen Regularien schaffen.
Die neue Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) hat zu erheblichen Unsicherheiten und Wettbewerbsnachteilen im Vergleich zu Nicht-EU-Unternehmen geführt. Wie ist ein Interessenausgleich möglich?
Christian Ehler (CDU): Die IHK deutschlandweit haben gesagt, dass es eine gemeinsame europäische Regelung braucht. Aber die EU hat bei der DSGVO überzogen - deswegen habe ich in Teilen dagegen gestimmt. Aber um die Gesetzgebung zu ändern, braucht es einen Überprüfungsmechanismus oder einen neuen Beschluss in der nächsten Legislatur. Man könnten stattdessen Beschlüsse auf fünf Jahre befristen und dann neu darüber befinden.
Hersteller sollen künftig der Reparatur den Vorrang einräumen. Wie will das EU-Parlament Unternehmensinteressen berücksichtigen, ohne dass das Verbraucherrecht gefährdet wird?
Martin Günther (Linke): Wir brauchen sowohl Verbraucherschutz als auch die Entwicklung neuer Wirtschaftszweige. Da könnten Reparaturen künftig dazugehören.
Publikumsfrage: Im Tourismus gibt es viele KMU, die von der Bürokratie sehr geplagt sind. 82 Verordnungen gibt es im Gastgewerbe. Muss überall kostenlos Leitungswasser angeboten werden und braucht es ein Rauchverbot in Biergärten?
Ehler: Es geht immer um Zielkonflikte. Kann man gleichzeitig CO2 reduzieren und die Transformation voranbringen? Es ist niemand gegen Klimaschutz, aber kann man alles gleichzeitig machen? Da ist das Projekt „Net Zero Valley“ beispielgebend: Welche Rechtsnormen können wir nicht ändern, aber beschleunigen? Das Verbandsklagerecht wird uns ruinieren.
Glißmann: Wir diskutieren heute über Brüssel, aber wir haben auch einen Bund. Wir haben eine Ampel, die ihre Hausaufgaben macht. Bei der Debatte um das Bürokratieabbaugesetz kamen 380 Vorschläge aus Unternehmen. 120 davon betreffen jedoch nur den Bund. Deshalb müssen wir im Austausch bleiben und uns gegenseitig beraten.
Vier Fünftel der IHK-Mitgliedsunternehmen sprechen sich für mehr Einwanderung von Fachkräften und gegen Remigration, berichtet Moderator André Fritsche. In den Betrieben arbeiten bereits viele EU-Bürger. Zwischen 2015 bis 2021 war Wanderungssaldo in der Lausitz positiv, also gebe es kein Abwanderungsproblem. Allerdings werde der Lausitz weiterer Bevölkerungsrückgang prognostiziert, außer in Dahme-Spreewald.
Die fehlende Harmonisierung der Umsetzung von EU-Recht verhindert die komplette Personenfreizügigkeit. Wie wollen Sie als EU-Abgeordneter Einfluss auf nationale Entscheidungsträger nehmen?
Martin Günther (Linke): Als Parlamentarier müssen wir genau hinschauen und mit den Verbänden in den jeweiligen Ländern Druck auf die Nationalstaaten machen.
Das Erasmus-Programm ist ein Beispiel zur Mobilisierung von Fachkräften. Nicht jedes Land lebt das. Wie kann es effizienter werden?
Martin Hoeck (FDP): Die Bildung in der EU braucht einen höheren Stellenwert. Schul- und Ausbildungssysteme müssen synchronisiert werden. Wir schlagen einen digitalen One-Stopp für die Anerkennung von Abschlüssen vor.
Wie lässt sich die Stimme der Brandenburger Wirtschaft stärken, wenn es um das Fachkräfteeinwanderungsgesetz geht?
Viviane Triems (Grüne): Wir haben ein europäisches Fachkräfteeinwanderungsgesetz angestrebt, aber da sind die Staaten dazwischen gegrätscht. Die IHK sollte Druck auf die Bundesregierung machen.
Es fehlen Fach- und Arbeitskräfte, Gaststätten und Geschäfte müssen schließen. Wie wird erreicht, dass die Arbeitskräfte aufwandsarm herkommen?
Mary Khan-Hohloch (AfD): Wir plädieren dafür, das Thema Bildung anzupacken. Wir sind da Schlusslicht. 2,8 Millionen Menschen zwischen 20 und 34 sind ohne Berufs- und Schulabschluss. Da müssen wir rangehen. Wir müssen das Handwerk attraktiver machen und Fachkräfte unterstützen, sofern sie die Qualifikation mitbringen. Es braucht eine qualifizierte Fachkräfte-Einwanderung. Außerdem dürfen wir 270.000 heimische Fachkräfte nicht abwandern lassen, etwa, in dem mehr Netto vom Brutto übrigbleibt.
Beispiel Net Zero Valley: Wie könnte eine Deregulierungsstrategie gegen Fachkräftemangel helfen?
Christian Ehler (CDU): Wir sind zwar überreguliert, aber wir haben auch die Handwerksrolle beim Thema Arbeitsmigration verteidigt. Im Net Zero Valley müsste durch außerschulische Qualifikation auch niedrigschwellige Arbeit in Net-Zero-Technologien ermöglicht werden. Durch Augmented Reality könnte man ein digitales Hindurchleiten durch Reparaturprozesse ermöglichen, sodass nicht immer eine Fachkraft erforderlich ist. Wichtig ist es, Freiräume zu geben, um Dinge auszuprobieren.
Wie schaffen wir es, den Exportschlager duale Ausbildung zu erhalten, wie kann duale Ausbildung in der EU verankert und der Austausch gefördert werden?
Marie Glißmann (SPD): Wir müssen mehr junge Menschen aktivieren. Aber wir haben das Problem der Mobilität im ländlichen Raum. Wir brauchen den europäischen Führerschein ab 16. Und wie bei Erasmus eine Mobilitätspauschale.
Publikumsfrage: Es kommen viele nicht Qualifizierte als Geflüchtete. Wie schließen wir das Delta?
Ehler: Es ist nicht die Frage, ist jemand qualifiziert oder nicht? Wir müssen die Migration in den Griff bekommen. Wer hier ist, muss qualifiziert werden. Wir müssen auch an Dinge ran, die nicht so angenehm sind: Was ist denn mit der Handwerksrolle? Und: Neben Musikschulen brauchen wir auch Digitalschulen.
Khan: Wir differenzieren das auch. Mein Vater ist in den 1970er Jahren hergekommen. Es kann nicht sein, dass fast 60 Prozent der Bürgergeldempfänger aus Ausland kommen. Wir haben 240.000 Ausreisepflichtige. Wer hier Leistungen bezieht, Bildung und Freiheit genießt, muss sich integrieren.
Tiems: Viele, die kommen, möchten sich integrieren, aber es gibt viele Hinderungsgründe bei der Arbeitsaufnahme. Wir brauchen schnelle Integrationskurse und müssen die Frauen stärken, gerade auch die Mütter.
Glißmann: Der größte Fluchtverursacher ist Putin. Wird die Ukraine eingenommen, kommen noch mehr Flüchtlinge. Der größte Feind für die Aktivierung von Fachkräften sind manche Besteuerungen, z.B. das Ehegattensplitting.
Hier gibt es einen Rückblick und ein Kurz-Video von Lausitz TV zu der Runde.
Protokoll: Dörthe Ziemer