Das internationale Kammermusikfestival Fliessen bringt weltbekannte Musiker in die Niederlausitz. So klein und fein Kammermusikformate sind, so groß sind die Ideen dahinter. Sie reihen sich ein in eine lange Musiktradition in der Region.
Von Dörthe Ziemer
Plötzlich stehen sie im Klavierzimmer von Martin Helmchen, mit den Schuhen aus dem regennassen Märzgrau direkt auf den hellen Teppich gestiefelt. Mit seiner Frau, der Cellistin Marie-Elisabeth Hecker, gibt der Pianist eine kurze Hörprobe. Eigentlich sollte das kleine Konzert in der Scheune stattfinden, doch die ist um diese Jahreszeit noch zu kalt. Außerdem sprang der Gartentraktor nicht an – die Batterie war nach dem Winter noch nicht aufgeladen. Die beiden Musiker, die zur Weltspitze gehören und auf den ganz großen Konzertbühnen mit den bekanntesten Orchestern und Dirigenten musizieren, sind hier, im Brandenburgischen Bornsdorf bei Luckau, zu Hause. Zu Gast hatten sie in dieser Woche Pressevertreter aus der Hauptstadtregion. Die Brandenburgischen Sommerkonzerte hatten geladen, um ihr Festival Fliessen vorzustellen.
So nahbar zeigte sich das Musikerpaar in seiner Wahlheimat nicht zum ersten Mal. 2019 spielten sie in der Bornsdorfer Dorfkirche – ein Benefizkonzert zugunsten der Lütkemüller-Orgel. Ein hochkarätiges Konzert mit international gefeierten Künstlern in einer kleinen Kirche irgendwo in der Brandenburger Provinz – wie kommt das zusammen? Das hat mitnichten nur damit zu tun, dass das Musikerpaar zufällig in dem Ort wohnt und sich in die Dorf- und Kirchengemeinde einbringen möchte. Es hat auch mit ihrer Sicht auf ihren Beruf und auf den Kulturbetrieb zu tun. Und mit einer jahrzehntelangen Tradition in der Region, sich um die kleinen Dorfkirchen und feine Kirchenkonzerte zu kümmern.
Die Pfarrfamilie Gehrmann hatte damals zum Benefizkonzert nach Bornsdorf geladen, um Geld für die Rettung der Orgel zu sammeln. 1.200 Euro brachte das Konzert - für einen so kleinen Konzertraum mitten auf dem Land eine beachtliche Summe. Annegret Gehrmann kümmert sich seit Jahrzehnten mit dem Förderkreis Alte Kirchen der Luckauer Niederlausitz darum, die denkmalgeschützten Kirchen und ihre Ausstattungen, die einige Raritäten bergen, wieder herzurichten und zu erhalten. Dazu werden Konzerte, Kirchenradtouren und mehr organisiert. Weil die meisten Kirchen recht klein sind, hat die Kammermusik in den Dorfkirchen der Luckauer Niederlausitz schon eine lange Tradition – sei es mit einheimischen Laien- und semiprofessionellen Gruppen oder auswärtigen Profi-Ensembles, die sich freuen, im Sommer die großen Konzertsäle verlassen und aufs Land gehen zu dürfen.
Eine lange Tradition also, die nun ein neues Festival krönt – ein internationales, mit Weltklassemusikern, in familiärer Atmosphäre. Sie hätten, sagt das Musikerpaar Hecker-Helmchen, von Anfang an die Vision gehabt, an ihrem neuen Wohnort Kammermusik zu spielen. Seit sieben Jahren leben sie auf dem drei Hektar großen Grundstück kurz vor dem Ortseingang von Bornsdorf, in einem ehemaligen Mühlengebäude mit einer großen Scheune. „Gemeinsames Erleben, Begegnung, Entdecken von Neuem und Verbindendem, Suche nach einer gemeinsamen Sprache, die den Zuhörer herausfordert und anspricht in vielerlei Weise: Das ist es, worum es beim Musizieren geht“, erklären die beiden. Dies in familiärer Runde im Rahmen eines Festivals umzusetzen, sei seitdem ihre Vision – „ohne all das Drumherum, das uns oft vom Wesentlichen ablenkt”.
Die Drauschemühle bei Bornsdorf. Fotos: Dörthe Ziemer
Die Scheune im Winter, im Sommer ein Konzertraum.
Allein die Sanierung des Wohnhauses, die Bewirtschaftung des Gartens und der Familienalltag mit ihren vier Kindern hatten Marie-Elisabeth Hecker und Martin Helmchen bislang davon abgehalten, diesen Traum umzusetzen. Bis sie auf Wolfram Korr, seit zwei Jahren Geschäftsführer der Brandenburgischen Sommerkonzerte, trafen. Das über 30 Jahre alte Musikfestival, das klassische Musik zusammen mit thematisch passenden Begleitprogrammen in die Weiten Brandenburgs bringt, sei auf der Suche nach einem Herz, einem kleinen Zentrum gewesen, sagt er. Ein Festival im Festival sozusagen.
Die Ideen von Wolfram Korr und Martin Helmchen haben offenbar sofort zusammengepasst. „Wir hatten die gleichen Vorstellungen darüber, wie Kultur sein sollte”, sagt der Pianist. Und so wurde die Idee vom Kammermusikfestival geboren: Eine Woche lang, jeden Tag, acht Spitzenkonzerte mit Weltklassemusikern, die zum Freundeskreis des Bornsdorfer Musikerpaares gehören. Eine Woche lang werden sie in der Bornsdorfer Drauschemühle proben, um von dort aus zu ihren Konzertorten zu fahren. Diese befinden sich in den benachbarten Kleinstädten Luckau, Lübben, Lübbenau und Finsterwalde sowie in Bornsdorf und im Museumsdorf Glashütte. Jedem Ort wurde in passendes Thema und ein Begleitprogramm gegeben. Damit wird nicht nur das Konzerterlebnis in den Fokus gerückt, sondern auch die Spezifik des jeweiligen Ortes.
„Wir wollen zeigen, dass so ein Konzert etwas mit einem selbst zu tun hat, und den Menschen die Möglichkeit geben, darin einen Anker zu finden.”
Martin Helmchen, Pianist
Die Konzerte nicht wie Ufos im Nirgendwo landen zu lassen, sondern sie in den jeweiligen Raum einzubinden und mit ihm in Bezug zu setzen, ist seit jeher Tradition der Sommerkonzerte. So soll es auch bei Fliessen sein. „Wir wollen zeigen, dass so ein Konzert etwas mit einem selbst zu tun hat, und den Menschen die Möglichkeit geben, darin einen Anker zu finden”, sagt Martin Helmchen. Marie-Elisabeth Hecker ergänzt, dass ihr sehr daran gelegen sei, dass die Konzerte familienfreundlich sind. Es darf also, ganz besonders bei den Scheunenkonzerten in Bornsdorf, auch mal zwischen den Sätzen geklatscht werden. Oder die Kinder vergnügen sich während des Konzerts im Garten – „dort, wo auch unsere vier Kinder herumtollen“.
Im Garten der Drauschemühle. Foto: Dörthe Ziemer
Die Auswahl der Stücke wurde kaum dem Zufall überlassen, sagt Martin Helmchen – sofern das überhaupt funktioniert, wenn 15 Solokünstler mit ihren Instrumenten aufeinander treffen. „Wir haben Stücke ausgewählt, die selbst oder in ihrer Aufführungsgeschichte etwas haben, über das es sich nachzudenken lohnt”, erläutert er. In Bornsdorf beispielsweise treffen die Konzertgäste auf einen geschichtsträchtigen Ort mitten in der Natur. Deshalb geht es in der begleitenden Diskussion um „Klimawandel in der Niederlausitz”, und es gibt eine Führung zu den Fließen rund um die Drauschemühle (die draußˋsche Mühle). Sie liegt neben dem Friedhof und einer Kirchenruine etwas außerhalb des Dorfes, befand sich einst aber mitten im Ort – bis dieser wiederum nach der Komplettzerstörung im 15. Jahrhundert einfach ein paar hundert Meter weiter wieder aufgebaut wurde. Passend zu Naturraum erklingt u. a. Franz Schuberts Forellenquintett.
Zum baulichen Erbe des Ortes passt auch, dass der angrenzende Bornsdorfer Badesee ein Restloch aus dem Braunkohletagebau ist und heute jenen Menschen ein Refugium bietet, die „Ruhe und Entspannung suchen – ohne viel Tamtam”, sagt Bürgermeister Frank Deutschmann. Wohl unbewusst knüpft er damit daran an, was sich Marie-Elisabeth Hecker und Martin Helmchen für ihr Festival wünschen – Kammermusik „ohne all das Drumherum”... Neben Frank Deutschmann steht Gerald Lehmann, der Bürgermeister aus dem benachbarten Luckau. Die mittelalterliche Kleinstadt mit erhaltener Stadtmauer, barocken Bürgerhäusern und einem Stadtpark, der in den Niederlausitzer Landrücken übergeht, war einer der ersten Spielorte der Brandenburgischen Sommerkonzerte und durfte häufig das Eröffnungskonzert austragen – ein Lieblingsort der Sommerkonzerte quasi.
St. Nikolai in Luckau, im Vordergrund das Gemeindehaus. Foto: Dörthe Ziemer
Das gründet vielleicht nicht zuletzt auf einer jahrhundertealten Musiktradition, die unter anderem durch das mittelalterliche Archiv der Kantorei von St. Nikolai und zahlreichen Aufführungen daraus geprägt ist. Das Archiv beherbergt in unzähligen Pappschachteln handschriftliche Kompositionen Luckauer Kantoren und seltene Abschriften und Drucke von Werken bedeutender Komponisten des Barock. In der Nikolaikirche findet dieses Jahr nicht nur das Eröffnungskonzert der Brandenburgischen Sommerkonzerte statt, sondern auch das dritte Konzert des Festivals Fliessen. Weil die riesige Kirche sehr hallig ist, sitzen die Musiker in der Mitte des Kirchraumes, unter der Kanzel. Unter anderem erklingt „Quatuor pour la fin du temps“ von Olivier Messiaen – ein Stück, das er 1941 als Kriegsgefangener in Görlitz, quasi am anderen Ende der Lausitz, komponiert hat.
In Luckau gibt es übrigens einen aktiven Freundeskreis der Brandenburgischen Sommerkonzerte: Menschen, die vor Ort das Festival unterstützen, eine schöne Kaffeetafel, ein Abendliedersingen oder Kremserfahrten organisieren und so dafür sorgen, dass auch die Menschen aus der jeweiligen Region einen Bezug zum Konzert finden. Außerdem gebe es zweimal pro Jahr weitere Konzerte – außerhalb der Sommerkonzert-Saison, erzählen Marita Riehm und Elke Hast vom Freundeskreis. Ihr Engagement passt gut in den Gründungsgedanken der Brandenburgischen Sommerkonzerte: eine von Bürgern getragene Kulturbewegung, die nach der politischen Wende von 1989 durch Musik in alten Gemäuern helfen sollte, Mauern in Köpfen ab- und neue Beziehungen aufzubauen. Zugleich wurde ein Teil des Erlöses in die Sanierung von Konzertorten gesteckt.
Eine wichtige Basis für die Kulturtradition in der Nachbarstadt Lübbenau bildet die gräfliche Familie zu Lynar, die seit über 400 Jahren im Schloss residiert – mit einer Unterbrechung: Nachdem Wilhelm Graf zu Lynar 1944 am Attentat auf Adolf Hitler beteiligt und hingerichtet worden war, wurde die Familie von den Nazis enteignet. Nach der Wende erhielt die Familie zu Lynar das Anwesen zurück und baute das Schloss zu einem Hotel aus. Lübbens Bürgermeister Helmut Wenzel hebt die Bedeutung der Familie für die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung der Stadt hervor. Gemeinsam mit der Lynarschen Familie seien in Lübbenau viele Dinge bewegt und kulturelle Projekte umgesetzt worden – gleich dem Mäzenatentum, das die klassische Musik insgesamt über 500 Jahre geprägt hat. Passend dazu wird im Rahmen von Fliessen auf Schloss Lübbenau die Frage diskutiert „Wem gehört das kulturelle Erbe Brandenburgs?“.
Schloss Lübbenau. Fotos: Dörthe Ziemer
Festsaal im Schloss Lübbenau.
Blick in den Schlosspark.
Rochus Graf zu Lynar, der heutige Hausherr, freue sich besonders darauf, sagt er. Es könne nur vielen gehören, das kulturelle Erbe – den Bürgern der Stadt und des Landes ebenso wie jenen, die es jahrhundertelang ge- und befördert haben. Er mag jene Kultur, zu der man sich dem Anlass angemessen kleide, sich dem Gegenüber entsprechend zuwende – und damit die Kultur hochleben lasse. Zugleich habe jene Kultur ihren Platz, die in entspannter Atmosphäre jedermann erreichen könne. Auf Schloss Lübbenau wird es beides geben: Das Kammerkonzert im Rahmen von Fliessen im Festsaal des Schlosses, u.a. mit den Ungarichen Tänzen von Johannes Brahms, aber auch ein open-air Swing-Konzert mit der BigBand der Deutschen Oper Berlin auf der Schlosswiese – in Sichtweite zu den Spreewaldfließen.
Apropos Spreewald – das Labyrinth aus hunderten Fließen erzeugt natürlich die ersten Assoziationen mit dem Festival-Namen. Gemeint ist mit Fliessen aber auch die Region im Flusse, nämlich die Lausitz im Strukturwandel. Und in der Musik, sagt Martin Helmchen, bedürfe ein Wort wie Fliessen gar keiner Erklärung…
Weitere Festivalkonzerte finden im Museumsdorf Glashütte, hier mit dem Schwerpunkt Handwerk, in der Paul-Gerhardt-Stadt Lübben mit einem Gespräch über Musik und Spiritualität sowie in der Kulturweberei in Finsterwalde, wo es um Bürgerschaftliches Engagement in der Kultur geht. Mehr Infos unter www.fliessenfestival.de
Folgende Musikerinnen und Musiker werden zum Festival Fliessen erwartet: Tobias Feldmann, Violine; Pirmin Grehl, Flöte; Marie-Elisabeth Hecker, Violoncello; Martin Helmchen, Klavier; Harriet Krijgh, Violoncello; Michael Lifits, Klavier; Sebastian Manz, Klarinette; Alexander Melnikov, Klavier; Theo Plath, Fagott; Christian Tetzlaff, Violine; Stephen Waarts, Violine; Antje Weithaas, Violine.