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Kampf ums Direktmandat: Warum so viele Kandidaten?

Die Chancen, einen Wahlkreis direkt zu gewinnen, gehen für "kleine" Kandidaten gegen Null. Dennoch treten 16 Direktkandidaten im Wahlkreis 62 an. Für ihre Kandidatur gibt es durchaus handfeste Gründe: finanzielle, aber auch andere.

 

Von Dörthe Ziemer


16 Direktkandidat*innen treten im Wahlkreis 62 an. Im Vergleich zu 2017 sind das sieben mehr. Gab es damals gar keine Einzelbewerber, die also ohne eine Partei im Hintergrund antreten, sind es diesmal drei. Nur ein einziges Mal, bei den Wahlen zum ersten deutschen Bundestag 1949, ist es Einzelbewerbern gelungen, ein Mandat im Wahlkreis zu gewinnen und so direkt in den Bundestag einzuziehen. Der naheliegendste Grund für diesen Anstieg ist, dass durch die Corona-Pandemie die Zahl der für eine Kandidatur notwendigen Unterstützer-Unterschriften von 200 auf 50 herabgesenkt wurde. Direkte Bürgerkontakte waren aufgrund der Eindämmungsverordnungen schwierig, deshalb wurde für diese Bundestagswahl die Bundeswahlordnung entsprechen geändert.

 

Faktisch keine Aussicht auf ein Direktmandat

Wie stehen die Chancen, einen Wahlkreis direkt zu gewinnen? Bei der Bundestagswahl 2017 hatte die CDU alle Brandenburger Wahlkreise – bis auf einen – direkt gewonnen. Aktuell sei eine Entscheidung zwischen CDU, SPD und evtl. noch AfD und Linke realistisch, schätzt Anastasia Pyschny vom Institut für Parlamentarismusforschung ein. „Alle anderen Bewerber*innen haben faktisch keine Aussicht auf ein Direktmandat“, sagt sie. Was treibt vor diesem Hintergrund die Kandidaten der kleinen Parteien bzw. die Einzelbewerber an? Wieso tun sie sich – neben ihrem Beruf – den zeitlich und finanziell aufwändigen Wahlkampf an? Woher bekommen sie Unterstützung und was erhoffen sie sich von ihrer Kandidatur? Das haben wir die Kandidaten, aber auch Wissenschaftler gefragt, die gern von „Zählkandidaten“ oder „Füllkandidaten“ sprechen.

 

Die Hauptmotivation von Füllkandidaten, haben Oliver Kannenberg und Daniel Hellman vom Institut für Parlamentarismusforschung in einer Untersuchung der Bundestagswahl 2017 herausgefunden, ähnelt der von aussichtsreichen Kandidaten: „Wählerinteressen vertreten“ und „meine Partei unterstützen“ werden von Befragten in beiden Gruppen mit jeweils über 95 Prozent am häufigsten angegeben. „Meine Motivation für die Kandidatur ist es, den Wählern zu zeigen, dass es echte Alternativen gibt“, sagt etwa Guido Körber, aktueller Kandidat der Piratenpartei im Wahlkreis 62, und nennt gleich den zweiten wichtigen Grund, nämlich „die Piraten besser bekannt zu machen“ – also seine Partei zu unterstützen: „Wir wollen unsere Ideen und Konzepte bekannt machen und zeigen, dass es positive Zukunftsvisionen gibt.“

 

Großflächenplakate der SPD und der Linken. Foto: Dörthe Ziemer

Solche Großflächenplakate werden eher von den...

Großflächenplakate der CDU und von B90/Grünen. Foto: Dörthe Ziemer

...größeren Parteien aufgestellt. Fotos: Dörthe Ziemer

 

Bei den anderen Motiven zeigen sich durchaus Unterschiede zwischen Füll- und aussichtsreichen Kandidaten, etwa bei dem Motiv, aus einem empfundenen Mangel an geeigneten Kandidaten anzutreten: 29 Prozent der 2017 befragten Füllkandidaten sind dadurch motiviert, aber nur 21 Prozent der aussichtsreichen Kandidaten. Für Ralf Nobel, der im Wahlkreis 62 für die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP) antritt, passt dieses Motiv: „Ich habe bislang den Aussagen der regierenden Politiker mehr oder weniger vertraut. Die Krisen der letzten Jahre haben mich dann nachdenklich stimmen lassen, was hier falsch gelaufen ist und vor allem, wie man es besser machen sollte.“ Und auch er möchte mit seiner Arbeit im Wahlkampf seine Partei unterstützen: „Innerhalb der Parteiarbeit kam ich dann recht schnell zu dem Entschluss, für den Bundestag zu kandidieren, um die guten Lösungen der ÖDP bekannter zu machen und aufzuzeigen, dass wir so wie die letzten Jahrzehnte nicht weitermachen können.“ Ähnlich formuliert es Uwe Tanneberger von den Freien Wählern: Er kandidiere im Wahlkreis 62, weil er „es nicht mehr ertrage, wie mit dem arbeitenden Bürger und vor allem unserer Umwelt umgegangen wird“. Von der Gemeindeebene wolle er nun auch auf der Bundesebene etwas verändern. Das Motiv, „das politische System ändern“ zu wollen ist laut der wissenschaftlichen Befragung bei den aussichtsreichen Kandidaten (58%) leicht stärker als bei den Füllkandidaten (55%) ausgeprägt.

 

Motiv: Mangel an Kandidaten und Themen

Einen Mangel hat auch Christiane Müller-Schmolt, die für die Tierschutzpartei im Wahlkreis 62 antritt, ausgemacht, nämlich einen Mangel an Themen: „Meine Motivation für die Kandidatur sind ganz klar der teilweise nur auf dem Papier stehende Tierschutz, der nicht aktiv praktizierte Artenschutz, der Schutz der Umwelt, wie z.B. des Waldes.“ Diese Themen würden derzeit sämtlichen wirtschaftlichen Themen untergeordnet, sagt sie. Lars Hartfelder und Andreas Beer formulieren es nicht als Mangel, sondern als spezifische Zielgruppe, die sie in ihrem Wahlkampf vertreten möchten: „Ich kandidiere, weil ich mich speziell für mittelständische Unternehmen, Freiberufler und Selbstständige einsetzen möchte. Denn die Unterstützung der lokalen Wirtschaft ist für nahezu alle Brandenburger existenziell“, erklärt Lars Hartfelder, Kandidat der FDP. Und Andreas Beer, der für die Familienpartei antritt, sagt: „Meine Motivation ist, mich mit der Familienpartei Deutschlands mehr für die Belange unserer Kinder, Familien und Rentner einzusetzen.“

 

Allen hier genannten Kandidaten ist gemeinsam, dass sie einen erheblichen Teil ihrer Freizeit für den Wahlkampf aufwenden. Plakate kleben, Flyer verteilen, Termine wahrnehmen, Bürger- und Presseanfragen beantworten – das erledigen sie in unzähligen Stunden mit einem mehr oder weniger großen Team im Hintergrund. Andreas Beer etwa habe während des Wahlkampfes seinen Urlaub für das Jahr 2020 abgebaut, da er als Hygienefachkraft und Notfallsanitäter 2020 aufgrund von der Corona Pandemie keinen Urlaub machen konnte. „In der ersten Urlaubswoche habe ich täglich acht Stunden Flyer ausgeteilt und mich mit Bürgern am Gartenzaun oder vor der Tür unterhalten“, berichtet er. Die 20.000 Flyer hatte er selbst finanziert. Bei Guido Körber gehe derzeit praktisch seine ganze Freizeit in den Wahlkampf, sagt er. „Als Selbständiger schiebe ich dann auch mal einen Teil meiner Arbeit in die Nacht, damit ich an Veranstaltungen teilnehmen kann“, erzählt er. „Da meine Frau Landesvorsitzende ist, sind wir oft zusammen unterwegs, so sehen wir uns wenigstens.“

 

Wahlplakate der CDU und der Freien Wähler. Foto: Dörthe Ziemer

Der Kandidat der Freien Wähler will mit den anderen Parteien ...

Wahlplakate der SPD, der Freien Wähler und der CDU. Foto: Dörthe Ziemer

... im Straßenbild mithalten können. Fotos: Dörthe Ziemer

 

„Der Wahlkampf ist sehr anspruchsvoll und bindet tatsächlich viel Zeit“, sagt Lars Hartfelder. „Alle Aktivitäten sind ehrenamtlich – im Gegensatz zu meinen Mitbewerbern von CDU, SPD und AfD, die Berufspolitiker sind und eigene Büros haben.“ Diese dürfen zwar die Mandatstätigkeit, also die Arbeit für den Bundestag, nicht mit Wahlkampfeinsätzen vermischen und auch keine für die Mandatsarbeit bezahlten Mitarbeiter im Wahlkampf einsetzen. Praktisch ist aber eine Vermischung unvermeidbar und das Entstehen eines Vorteils durch Mandatstätigkeit auf den Wahlkampf hinzunehmen, wie das Bundesverfassungsgericht einst geurteilt hat. Der Wahlkampf sei nur dank der Unterstützung von Ortsverbänden, Parteimitgliedern, Familienangehörigen, Freunden und/oder sonstigen Mitstreitern möglich, betonen alle Kandidaten der kleinen Parteien bzw. Vereinigungen. Christiane Müller-Schmolt erklärt es so: „Das erledigen wir alle in unserer ‚Freizeit‘ im Bewusstsein der ethischen Verantwortung.“ Uwe Tanneberger sagt, er wolle im Straßenbild mit den anderen Kandidaten gern mithalten. „Ohne die starke Unterstützung vor allem beim Plakatieren wäre das in so kurzer Zeit unmöglich umzusetzen gewesen. Vor allem ist aber die psychische Kraft, die ich daraus geschöpft habe, unersetzlich.“

 

Gerade deshalb ärgert es viele Kandidaten kleinerer Parteien, wenn sie zu Wahlforen mit verschiedenen Kandidaten nicht eingeladen werden. Im sozialen Netzwerk Facebook haben sich dazu bereits zahlreiche Debatten entsponnen, wer zu welchem Forum eingeladen wurde, wer nicht und warum. Waren es thematische Schwerpunkte, waren nur „die Großen“ eingeladen? Grundsätzlich dürfte es schwierig sein, ein Wahlforum mit 16 Kandidaten zu moderieren. Zudem sind nicht alle Kandidaten gleichermaßen wahrnehmbar. Die Einzelbewerber im Wahlkreis 62 Volker Commentz, Roald Hitzer und Michael Gabler, die also ohne Partei im Hintergrund antreten, sind schwer zu finden. Anrufe bei im Netz verfügbaren Telefonnummern bleiben ohne Antwort. Mögliche Social-Media-Profile weisen nicht darauf hin, dass da jemand Wahlkampf macht. Fragen auf abgeordnetenwatch.de werden nicht beantwortet. Von den Dreien hat nur Roald Hitzer inzwischen einen Internetauftritt. „Das zeigt, dass viele so eine Kandidatur unterschätzen“, sagt Anastasia Pyschny vom Institut für Parlamentarismusforschung. „Sicherlich treten Einzelbewerber mit guten Absichten und hehren Zielen an. Aber daran hängt eine Menge Arbeit, erst recht, wenn der Kandidat keine politische Erfahrung hat. Da kann es schnell ein böses Erwachen geben.“

 

Wichtiger Anreiz: Staatliche Parteienfinanzierung

Für Einzelkandidaten gilt auch nicht der Anreiz der Parteienfinanzierung durch den Staat: Alle Parteien, die bei der Bundestagswahl mehr als 0,5 Prozent der Zweitstimmen holen, bekommen eine staatliche Finanzierung. „Daher kämpfen sie um jede Stimme und machen, um sichtbarer zu sein, dem Wähler auch ein Angebot für die Direktmandate“, sagt Anastasia Pyschny. „Die Parteien wollen weiter wachsen. Ihr Ziel ist ja nicht, die Wahl abzuwarten, und dann passiert nichts mehr, sondern die Parteien sind auf längere Zeit darauf aus, bürgerliche Interessen zu vertreten.“ Wieviel Geld die Parteien nach so einem Wahlerfolg erhalten, richtet sich „nach dem Grad ihrer Verwurzelung in der Gesellschaft“, heißt es in der jährlichen Festsetzung der staatlichen Mittel des Bundestages: „Kriterien hierfür sind zum einen die von den Parteien erzielten Wahlerfolge, zum anderen ihre Ergebnisse bei der Einwerbung von Zuwendungen natürlicher Personen.“ Die Aufstellung kann auf den Internetseiten des Bundestages abgerufen werden. Standen beispielsweise der CDU und der SPD für 2020 jeweils knapp 50 Millionen Euro zu, so waren es für die FDP rund 14 Millionen Euro, für die ÖDP 1,2 Millionen Euro, für die Piratenpartei gut 400.000 Euro, für die Freien Wähler gut 90.000 Euro und für die Tierschutzpartei voraussichtlich eine knappe Million Euro.

 

Vor diesem Hintergrund mag es noch schwerer nachzuvollziehen sein, warum Einzelbewerber als Direktkandidaten antreten. Fakt bleibt jedoch, dass alle 16 Kandidaten im Wahlkreis 62 dafür sorgen, dass die Wählerinnen und Wähler eine große Auswahl haben. „Das ist erst einmal ein gutes Zeichen für die Demokratie“, sagt Anastasia Pyschny. Zugleich sei dies eine „Parteienkritik, die aussagt: ‚Wir wollen ein anderes Angebot, wir wollen andere Personen und andere Inhalte.‘ Das ist ein Warnzeichen: wenn sich Bürger und Bürgerinnen nicht mehr innerhalb der Parteien wiederfinden.“ Denn das zieht neben einem Mitgliederschwund eben auch einen Schwund an potenziellen Kandidaten für die Parlamente auf allen Ebenen nach sich. „Die Parteien müssen schauen, dass sie einen bunten personellen Mix und auch einen Mix an politischen Ideen anbieten können, in dem sich viele Bürger und Bürgerinnen wiederfinden“, sagt die Forscherin.

 

Neue Kandidaten und Mandatsträger brauchen "alte Hasen"

Zugleich komme es drauf an, neben neuem Personal auch alte Hasen im Parlament zu haben. „Es wird oft gesagt, dass man eine Wahlperiode benötigt, um sich in die parlamentarische Arbeit einzufinden“, sagt Anastasia Pyschny. „Denn die Geschäftsordnung des Bundestages verinnerlicht man nicht eben mal so.“ Eine Professionalisierung der gewählten Kandidaten sei wichtig, und das werde häufig auch schon in den Parteien vorbereitet, wo der Nachwuchs geschult und begleitet wird: Welche verschiedenen Arten von Fragerechten gibt es, um die Bundesregierung zu kontrollieren? Wie spricht man vor dem Plenum? Wie geht man mit den Medien um und wie verhält man sich in den Sozialen Netzwerken? „Es ist wichtig, dass man das verinnerlicht“, erläutert die Forscherin. „So, wie die Gesellschaft Regeln für das Zusammenleben braucht, braucht der Bundestag Regeln, um zu funktionieren. Alle müssen wissen, woran sie sich halten müssen, um arbeitsfähig zu sein.“

 

Diese Grundlagen würden u.a. in der Parteiarbeit vermittelt und während der so genannten „Ochsentour“ (Karriereweg durch verschiedene Partei- und Gremienebenen) erworben. Deshalb sei es gerade für den Parteinachwuchs interessant, für ein eigentlich aussichtsloses Direktmandat zu kandidieren, so Anastasia Pyschny: „Ich beobachte, dass es meist junge Kandidaten und Kandidatinnen sind, die sich in solchen Wahlkreisen profilieren. Das hat vielleicht erstmal keine Aussicht auf Erfolg, aber kommt demjenigen vielleicht in der künftigen Parteiarbeit zugute.“ So ist denn auch das Motiv „Wahlkampferfahrung“ in der wissenschaftlichen Befragung bei Füllkandidaten mit rund 50 % höher als bei den aussichtsreichen Kandidaten (rund 29%) ausgefallen.

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Veröffentlichung

Do, 16. September 2021

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