Stolpersteine mit Patina

Patina hat sich auf die Stolpersteine in Lieberose gelegt. Drohen die Namen jüdischer Familien und deren Schicksal zu verblassen? Der Gedenkstättenverein will abermals junge Menschen in die Erinnerungskultur einbeziehen.

 

Von Ingrid Hoberg

 

„Von der kleinen jüdischen Gemeinde der Stadt lebten in der Zeit nur noch Margarete Jaape und die Familien Fuchs und Hirsch. Beide Familien waren Besitzer von Textilgeschäften am Markt … Am Tage nach der Pogromnacht ging also die kleine Inge auf den Markt, sie hatte schulfrei. Schon frühmorgens war die Stadt braun von SA-Männern, die Pflastersteine in Schaufenster der Geschäfte Hirsch und Fuchs warfen. Die Steine lagen auf den guten Winterstoffen, erinnert sich eine Mitschülerin von Inge, Annemarie Gottschald … Als Jungs mit Stöcken durch die runden Lüftungsöffnungen an den Schaufenstern der Stoffhandlung Hirsch … stocherten und die Auslagen zu zerstören versuchten, sagte die kleine Inge: ‚Hört auf, das macht man doch nicht.‘ Die Jungs antworteten ihr, dass sie das dürften. Das hätte ihnen Lehrer Lillack gesagt.“

 

So schildert der Schauspieler Michael Becker, gebürtiger Lieberoser, in seinem Buch „Osramkopp trifft Elefant, ein Lieberoser Hasenfuß und so was kommt von so was“ Ereignisse aus dem Jahr 1938 in Lieberose – überliefert aus Erzählungen von Augenzeugen.

 

 

Michael Becker: Begegnung auf dem Schulhof.

Video: Ingrid Hoberg

 

 

Michael Becker: Beobachtung am Schaufenster.

Video: Ingrid Hoberg

 

Das Schicksal der jüdischen Familien in der Stadt, in der er geboren wurde und aufgewachsen ist, beschäftigte ihn fortan. So sehr, dass er sich für die Verlegung von Stolpersteinen am Lieberoser Markt, an den Wohnhäusern der Familien Hirsch und Fuchs, einsetzte. „Ich habe das Verlegen der Stolpersteine angeregt und dann in die Hände von Peter Kotzan gelegt“, sagt Michael Becker. Sein ehemaliger Lehrer sorgte dafür, dass das Projekt im Gedenkstättenverein Lieberose besprochen und in die kommunale Entscheidungsebene, die Stadtverordnetenversammlung, getragen wird.

 

In einem Artikel für das Lieberoser Stadtjournal schrieb Peter Kotzan anschließend über „Stolpersteine, ein Projekt gegen das Vergessen“:

 

Die Stadtverordnetenversammlung hat in ihrer Sitzung am 25. März 2008 das im öffentlichen Interesse liegende Projekt „Stolpersteine” gebilligt und die Verwaltung beauftragt, die Umsetzung des Projektes „Stolpersteine” zu fördern.

Stolpersteine erinnern inzwischen in über 100 Städten in der Bundesrepublik an die Vertreibung und Vernichtung von Juden, Sinti und Roma, politisch Verfolgten, Homosexuellen, Zeugen Jehovas sowie Euthanasieopfern in der Zeit des deutschen Faschismus. In Brandenburg wurden bereits in Neuruppin, Eberswalde, Teupitz, Königs Wusterhausen, Eisenhüttenstadt, Senftenberg, Guben, Frankfurt/Oder und Lübben Stolpersteine verlegt.

In Lieberose sollten solche Stolpersteine zuerst im Bürgersteig vor den ehemaligen Wohnhäusern der jüdischen Familien Hirsch und Fuchs eingelassen werden.

Stolpersteine sind 10x10x10 cm große Betonsteine, an denen sich auf der Oberseite ein Messingblech befindet. Die Messingplatte enthält den Schriftzug „Hier wohnte” sowie den Namen, das Geburtsjahr, das Datum der Deportation und Angaben über das Schicksal des betroffenen Menschen. Die Steine werden direkt vor der Haustür der letzten Wohnung in den Bürgersteig, im öffentlichen Raum, eingelassen.

Stolpersteine sind ein Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig. Die im Bürgersteig eingelassenen Stolpersteine werden durch das Begehen blank poliert und der Passant stolpert mit den Augen darüber. Die „blinkenden Erinnerungen” geben den Opfern ihren Namen zurück und zeigen, dass die Geschichte vor der eigenen Haustür oder in direkter Nachbarschaft geschieht.


Stolpersteinverlegung im Oktober 2011 mit Gunter Demnig in Lieberose. Foto: Dieter KlaueÜber den Gedenkstättenverein wurden die notwendigen Spenden gesammelt, doch es dauerte noch bis zum 12. Oktober 2011, ehe tatsächlich sieben Stolpersteine durch Gunter Demnig in einer öffentlichen Aktion in Lieberose verlegt werden konnten. Und dann wollte es der Zufall, dass Nachfahren der Familie Fuchs in diesen Tagen in der Region unterwegs waren und so überraschend an der Aktion teilnehmen konnten. Die Märkische Oderzeitung Beeskow berichtete damals:


Manchmal schreibt das Leben Zufälle ins Drehbuch, die einen Staunen machen: „Nur um zu sehen, wo die Mutter und die Großeltern gelebt haben“, halten sich seit einigen Tagen Michal Gemer und Bruder Gabriel Grabow samt Ehefrau und Tochter in Lieberose auf. Gemer und Grabow sind die Kinder von Harriet Fuchs und damit die Enkel von Elisabeth und Moses Fuchs, die 1935 und 1936 von den Nazis aus Lieberose vertrieben worden waren. Grabows leben heute in Bad Nauheim, Michal Gemer lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Tel Aviv. Dass das Zusammentreffen der Geschwister in Lieberose zufällig mit der Gedenkzeremonie für ihre Vorfahren einherging, überraschte und berührte die weit gereisten Gäste.


„Sie konnten auch das Haus sehen, in dem der Moses Fuchs, der Vater und Großvater, eine Nacht im Gefängnis verbrachte, ehe er nach Polen deportiert wurde“, erzählt Michael Becker. Es ist das Gebäude Markt 11, in dem sich bis vor kurzem noch eine Bankfiliale befand und das nun von einem neuen Nutzer ausgebaut wird. Die Gitter des ehemaligen Lieberoser Gefängnisses sind im Hof noch zu sehen.

 

Michael Becker: Begegnung beim Verlegen der Stolpersteine.         Video: Ingrid Hoberg

 

Spuren jüdischen Lebens in Lieberose zu finden, ist heute gar nicht mehr so einfach. Doch es gibt noch Anknüpfungspunkte. Neben den Stolpersteinen am Marktplatz sind es auch Ortsbezeichnungen wie „Judentunke“ für eine Stelle am Mühlenfließ unterhalb der Wassermühle. In der Broschüre „Das Leben und Schicksal der jüdischen Einwohner von Friedland, Lieberose und Peitz“ sind die Ergebnisse eines Schülerprojekts zusammengeführt, an dem vier Schüler im Jahr 2004 gearbeitet hatten. Der Lieberoser Historiker Dr. Andreas Weigelt hat diese Forschungsarbeit begleitet, die im Rahmen der Bundesinitiative „Wir … hier und jetzt“ entstanden ist. Eine Ausstellung mit den Ergebnissen wurde damals in Lieberose, Peitz und Friedland gezeigt. Die Evangelische Kirchengemeinde Lieberose und Land brachte eine Broschüre heraus, die dokumentiert, wie viel Material die Schüler damals innerhalb eines Jahres zusammengetragen haben. Unter anderem recherchierten sie im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam-Bornim, in den Archiven der Gedenkstätten unter anderem in Buchenwald, Sachsenhausen, Auschwitz, in den Archiven der Region, beim DRK Suchdienst, dem Zentralrat der Juden und weiteren Archiven in Jerusalem, Tel Aviv, New York, Washington.

 

Die Stolpersteine für Familie Fuchs vor ihrem letzten Wohnhaus am Lieberoser Markt. Fotos: Ingrid Hoberg

Die Stolpersteine für Familie Fuchs vor ihrem letzten Wohnhaus am Lieberoser Markt (rechts).

Fotos: Ingrid Hoberg

Die Stolpersteine für Familie Fuchs vor ihrem letzten Wohnhaus am Lieberoser Markt. Fotos: Ingrid Hoberg


Auskünfte, Material, Fotos und Dokumente erhielten sie auch von Überlebenden, Nachfahren, Familien, Zeitzeugen. Stefanie und Florian Reinke arbeiteten an dem Kapitel „Die jüdischen Einwohner von Lieberose“. Es gab Kontakte zu Sophie Alice Leskowitz, geb. Hirsch, die 1939 nach Palästina fliehen konnte und später in Toronto (Kanada) lebte. Diese Verbindung blieb über die Jahre erhalten und wird, wie Familie Reinke informiert, bis in die heutigen Tage fortgesetzt – inzwischen mit der Enkeltochter von Alice Leskowitz.

 

: Die Stolpersteine für Familie Hirsch vor dem Eckhaus am Lieberoser Markt. Fotos: Ingrid Hoberg

Die Stolpersteine für Familie Hirsch vor dem Eckhaus am Lieberoser Markt (rechts).

Fotos: Ingrid Hoberg

: Die Stolpersteine für Familie Hirsch vor dem Eckhaus am Lieberoser Markt. Fotos: Ingrid Hoberg


Gegenwärtig blinken die Stolpersteine in Lieberose allerdings nicht in der Sonne – sie sind matt geworden, mit einer Patina überzogen. Dass sie wieder mehr ins Blickfeld kommen – und mit ihnen die Lebensgeschichten der Menschen, von denen sie berichten, dafür setzt sich Peter Kotzan ein. Im Gedenkstättenverein werden gerade weitere Schritte beraten, wie Pflege und Erinnerungskultur fortgesetzt werden können – beispielsweise in Projekten mit Schülern.

 

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Veröffentlichung

Do, 30. Dezember 2021

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