Steine des Erinnerns

Lübben hat zwei neue Stolpersteine. Die kleinen Messingtafeln ermöglichen sowohl kollektives als auch persönliches Gedenken, und beides wird im Landkreis gepflegt. Derweil fragen wissenschaftliche Debatten nach dem Erbe des weltweiten Kunstprojektes.

 

Von Dörthe Ziemer

 

Nicht jedes Jahr gibt es so viele Menschen, die sich am 9. November, dem Tag des Gedenkens an die Schrecken der Reichspogromnacht 1938, zu den Stolpersteinen in Lübben aufmachen. Häufig sind es kleine Gruppe oder Einzelpersonen, die mit warmem Wasser, Schwämmchen, Messingputzmittel und weichem Tuch die Steine aufsuchen, um sie zu reinigen und ihre Inschriften wieder deutlich zum Vorschein zu bringen. In Lübben haben sich in gestern indes rund 25 Menschen in der Kirchstraße eingefunden – denn dort wurden zwei neue Stolpersteine verlegt. Sie erinnern an das Schicksal der jüdischen Familie Julius und Frieda Moses, die bis 1939 an diesem Ort lebten.

 

Was ist eigentlich... ein Stolperstein?

Video: Karen Ascher

 

Julius Moses wurde in Lübben geboren, seine spätere Frau Frieda, geb. Hirsch, in Groß Leine. Julius baute ein Geschäft für „Alteisen und Rohprodukte“ auf und war Vorstand der Synagogengemeinde in Lübben. Aus dem Ersten Weltkrieg war er zurückgekehrt und hatte als Auszeichnung das Eiserne Kreuz erhalten. Am 9. November 1938 wurde er nach Sachsenhausen deportiert, konnte aber kurz darauf nach Lübben zurückkehren. Die Familie tauchte 1939 in Berlin unter, wurde jedoch 1943 nach Auschwitz deportiert – für Julius gab es einen Umweg über das Konzentrationslager Theresienstadt. Ihr Sohn Heinz Siegbert Moses konnte nach Palästina fliehen.

 

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, zitiert der Künstler Gunter Demnig den Talmud, neben der Thora die wichtigste Schrift des Judentums. Er hat die Stolpersteine Anfang der 1990er Jahre als Kunstprojekt initiiert. Die Messingtäfelchen werden am letzten selbstgewählten Wohnort der Opfer des Nationalsozialismus in den Gehweg eingelassen. Dabei kommt es dem Künstler darauf an, keine Massenware zu fertigen, sondern mit jedem Stein eben jedem Menschen und jeder Geschichte, die dahintersteckt, wieder ein Gesicht zu geben. Zum Konzept dieses Projektes gehört es, dass jeder Gedenkstein per Hand hergestellt wird, die Steine sollen weder in Masse produziert noch verlegt werden – als bewusster Kontrast zur Massenermordung im Nationalsozialismus.

 

Inzwischen liegen die kleinen Messingtäfelchen in 1.265 Kommunen Deutschlands und 24 Ländern Europas, heißt es auf der Homepage stolpersteine.eu. Damit sind die Stolpersteine über die letzten Jahrzehnte zu dem größten dezentralen Denkmal der Welt herangewachsen. „Wir freuen uns sehr über diese Entwicklung und über all die Menschen, die die Erinnerung an die verfolgten Menschen und die Verbrechen des Nationalsozialismus lebendig halten wollen“, schreibt das Team von Gunter Demnig. Vor Ort gibt es Paten, die die Verlegung der Stolpersteine koordinieren und die Kosten dafür tragen.

 

Patin Antje Jahn und Lübbens Bürgermeister Lars Kolan enthüllen die Stolpersteine im Gedenken an Familie Moses. Foto: Dörthe Ziemer

Patin Antje Jahn und Lübbens Bürgermeister Lars Kolan enthüllen die Stolpersteine im Gedenken an Familie Moses.

Anschließend legten die Anwesenden Blumen nieder und zündeten Kerzen an. Foto: Dörthe Ziemer

Anschließend legten die Anwesenden Blumen nieder und zündeten Kerzen an.   Fotos: Dörthe Ziemer

 

In Lübben war es diesmal Familie Jahn, die die Verlegung des Steinpaares in Erinnerung an Familie Moses ermöglicht hat. Das Lübbener Forum gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit fungiert dabei als Mittler zwischen Rechercheergebnissen zu Lübbener Schicksalen, den Nachfahren früherer Einwohner, Gunter Demnigs Projekt und möglichen Paten. „Wir haben 2008/2009 in einem Projekt mit Schülern der Spreewaldschule zu den Schicksalen von Lübbener Juden recherchiert“, erzählte Ilka Gelhaar-Heider vom Lübbener Forum vor Ort. In Zusammenarbeit mit dem Lehrer André Liebelt ist ein Büchlein entstanden, das Schicksale schildert, die durch die Nazis einfach ausgelöscht wurden. Schicksale von Menschen, die die Lübbener Stadtgesellschaft einst durch ihr berufliches oder ehrenamtliches Wirken mitgeprägt haben, die Nachbarn, Freunde, Kollegen waren und plötzlich verschwinden mussten. Untergetaucht, abtransportiert, ermordet.

 

Diese Schicksale bekommen durch die Stolpersteine einen Platz im öffentlichen Bewusstsein. Deshalb ist die Arbeit des Lübbener Forums längst nicht erschöpft. „Es geht darum, jüdisches Leben in der Stadt sichtbar zu machen“, sagt Ilka Gelhaar-Heider. Beispielsweise wisse kaum ein Lübbener, wo sich der jüdische Friedhof befand und welche Ausmaße er einst hatte. Viel zu oft habe sie während der Recherchen gehört, „die sind ja eh‘ gegangen“ oder „hier gab es niemanden“. Dagegen stehen die Ergebnisse, die Dutzende Namen Lübbener Juden und ihre Schicksale auflisten. Die Namen wurden gestern im Rahmen der Andacht zum Pogrom-Gedenken in der Lübbener Paul-Gerhardt-Kirche vorgelesen.

 

Auch in Königs Wusterhausen wurde gestern an die Namen und Schicksale von jüdischen Opfern des Nationalsozialismus erinnert. Jugendverbände hatten dazu eingeladen, am Nachmittag an allen Standorten mit Stolpersteinen Blumen niederzulegen und mehr über die Menschen zu erfahren, deren Namen dort im Boden eingelassen sind. Es wurde von beliebten Ärzten gesprochen, die plötzlich gemieden wurden und schließlich die Stadt verlassen mussten, von Zwangsscheidungen jüdisch-evangelischer Paare, von denen ein Partner zuvor konvertiert war, von Gemeindevertretern, Unternehmern und auch von Ehrenamtlern, die das kulturelle Leben in der Stadt, etwa in der Schauspielervereinigung, bereichert hatten.

 

In der Bahnhofstraße Königs Wusterhausen wurde jüdischer Mitbewohner und ihrer Schicksale gedacht. Foto: Dörthe Ziemer

In der Bahnhofstraße Königs Wusterhausen wurde jüdischer Mitbewohner und ihrer Schicksale gedacht.

Erinnerung an Familie Czapski. Foto: Dörthe Ziemer

Erinnerung an Familie Jacobsohn.

Fotos: Dörthe Ziemer

 

„Wir wollen ihre Namen wieder stärker ins Bewusstsein rücken: Wer hat wo gelebt, welche Geschäfte gab es, was haben die Menschen gemacht?“; sagt Jennifer Struck vom Stadtjugendring. In Königs Wusterhausen wurden Patenschaften zur Pflege der Stolpersteine vergeben – an Vereine wie Shia (Selbsthilfegruppen Alleinerziehender) und an verschiedene Jugendverbände. Als Zeitpunkt für die Treffen an den Steinen wurde 15 Uhr gewählt – „damit Schüler die Möglichkeit haben, auf dem Nachhauseweg teilzunehmen, und auch Berufstätige können um diese Zeit eher als vormittags“, sagt Jennifer Struck. Denn der Stadtjugendring sei dabei, die lokale Geschichtsarbeit mit jungen Menschen zu intensivieren. Neben den jährlichen Gedenkstättenfahrten solle es weitere Rechercheprojekte geben.

 

„Ich erinnere mich an eine Ausstellung über Zwangsarbeit in Dahme-Spreewald“, sagt Birgit Uhlworm vom Shia-Verband, die in der Königs Wusterhausener Bahnhofstraße vor Ort war. „Ich war damals erschrocken, wie selbstverständlich Unternehmer aus Königs Wusterhausen Zwangsarbeiter beschäftigten“, erzählt sie. So etwas sei ganz häufig nicht mehr im Bewusstsein der Menschen, sagt sie. Umso wichtiger sei es, durch Recherchen und Publikationen daran zu erinnern – vor Ort und anhand der Schicksale, die in der unmittelbaren Umgebung passiert sind.

 

Das Putzen der Steine gehört zum Gedenken vor Ort dazu:

Putzen der Steine: Erst mit Messingputzmittel abbürsten, ...

Erst mit Messingputzmittel abbürsten, anschließend mit warmem Wasser abspülen und trockenreiben.

... anschließend mit warmem Wasser abspülen und trockenreiben.

Blüten und Kerzen machen zu besonderen Daten auf die Steine zusätzlich aufmerksam. Fotos: Dörthe Ziemer

Blüten und Kerzen schmücken die Steine an besonderen Daten.

 

Inzwischen gibt es in Lübben zehn Stolpersteine, in Königs Wusterhausen 15. Im ganzen Landkreis, darunter in Lieberose, Luckau, Mittenwalde, Teupitz und Zeuthen, sind es inzwischen über 50 Steine. Dass sie regelmäßig – nicht nur am 9. November – von Bewohnern gereinigt und mit Blumen und Kerzen umlegt werden, entspricht dem Anliegen von Gunter Demnig: das Gedenken individuell, auf die jeweiligen Personen und den jeweiligen Ort bezogen, zu pflegen. Doch ist nicht die Gesamtzahl der Steine – über 70.000 weltweit – Ausdruck dessen, dass inzwischen auch Quantität eine Rolle spielt – ganz entgegen dem ursprünglichen Anliegen des Künstlers?

 

Diese Frage ist inzwischen auch Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen. So gab es 2019 in Berlin eine Tagung unter dem Titel „Steine des Anstoßes oder normiertes Ritual. Zur Rolle des Stolperstein-Projekts in den Erinnerungskonflikten der Gegenwart“. Diskutiert wurde die Frage, „ob Gunter Demnigs Kunstprojekt Stolpersteine in der Gegenwart noch jenen Charakter des Stolperns, des Anstoßes hat, den es zu Beginn in den 1990er-Jahren für sich beanspruchte“. Es ging darum, „dieses herausragende Phänomen deutscher Erinnerungskultur greifbar zu machen“ – mit kritischen Blicken auf die Gegenwart und Verweisen auf ähnlich angelegte und möglicherweise von den Stolpersteinen inspirierte Projekte im In- und Ausland.

 

Der Gedenkabend in Lübben wurde am ehemaligen Standort der Lübbener Synagoge beendet.

Die Andacht in Lübben wurde am ehemaligen Standort der Lübbener Synagoge beendet.

Der Gedenkabend in Lübben wurde am ehemaligen Standort der Lübbener Synagoge beendet. Foto: Dörthe Ziemer

Die Anwesenden stellen Kerzen auf und sangen den Kanon "Shalom Chaverim".   Fotos: Dörthe Ziemer

 

„Die Stolpersteine galten anfangs als konzeptuelles Kunstwerk, als subversive Form der Erinnerungskunst, die einen Akt des Widerstands gegen die monumentalen Mahnmale des Staates darstellte – sowohl im Aussehen als auch bei der Platzierung“, wird Gunter Demnig in einer Zusammenfassung der Tagung zitiert. Aufgrund der steigenden Nachfrage sei ihre Verlegung inzwischen nur mehr durch zahlreiche Initiativen möglich, die vor Ort Organisation und Recherchen betreiben. Vor diesem Hintergrund fragten zwei Forscher, ob nicht der Höhepunkt des Projektes erreicht sei und ob es nicht einfach „trendy“ sei, Stolpersteine zu verlegen. Die darauf folgende, sehr spannende Debatte führte zu den zwei Schlussfolgerungen, dass die Stolpersteine zum einen als „Steine des Anstoßes“ zu Diskussionen über Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung anregen und zum anderen – in welcher Zahl auch immer es sie gibt – stets Einzelschicksale würdigen.

 

Dass diese Form der Würdigung nach wie vor ein Anliegen von Menschen vor Ort ist, haben die gestrigen Zeremonien in Lübben und Königs Wusterhausen auf eindrucksvolle Art gezeigt.

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Veröffentlichung

Mi, 10. November 2021

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