Wie geht es den Kriegskindern?

Orte öffentlicher Erinnerung an die Schrecken von Krieg und Gewalt, etwa in Jamlitz und Halbe, sind elementar für unsere Gesellschaft. Wie sieht es aber mit der Erinnerung in den Familien aus? Dazu gibt es in der Burg Beeskow jetzt eine dreiteilige Reihe – zum Auftakt spricht die Journalistin Sabine Bode.
 

Von Dörthe Ziemer
 

Öffentliche Erinnerungskultur kann öffentlich verhandelt werden. Im vergangenen Jahr etwa diskutierte der Kreistag des Landkreises Dahme-Spreewald darüber, wie die Gedenkstätten in Jamlitz unterstützt werden könnten. Im Kern ging es darum, ob der Opfer einer KZ-Außenstelle ebenso gedacht werden sollte wie der Opfer eines Lagers des sowjetischen Geheimdienstes NKWD. Nach einigen Diskussionen entschied sich der Kreistag für ein klares Ja.

 

In Halbe wurde Anfang der 2000er Jahre das Ringen um die Erinnerungskultur förmlich auf der Straße ausgetragen. Zunächst waren es Einheimische, dann ein breites überregionales demokratisches Bündnis, das sich dem so genannten Heldengedenken von Neonazis entgegenstellte. Auch die Stolpersteine, die im Gedenken an verfolgte und ermordete jüdische Mitmenschen vor deren Häusern auch im Landkreis Dahme-Spreewald gepflastert wurden und regelmäßig gereinigt werden, gehören zu dieser Erinnerungskultur: sich zum gemeinsamen Gedenken einfinden, sich mit dem Erbe von Gewaltherrschaft auseinandersetzen und Wege für ein friedliches Miteinander finden.


Wie aber sieht es mit dem privaten Erinnern aus? Wie wird Erlebtes und Erlittenes in den Familien weitergegeben? Passiert dies überhaupt oder wird es aus Scham und Verdrängung totgeschwiegen? Mit diesem Thema hat sich die Journalistin Sabine Bode seit mehr als 20 Jahren beschäftigt und zahlreiche Geschichten von Kriegskindern und Kriegsenkeln aufgeschrieben. Diese sind, so ihr Ansatz, häufig der Schlüssel zu den Beziehungen in den Familien, die über Generationen hinweg von schweren Traumata geprägt sein können. Auf ihre Bücher folgten zahlreiche weitere Bücher – wissenschaftliche ebenso wie Familiengeschichten.

 

Am Mittwoch, 22. September, ab 19 Uhr hält Sabine Bode in der Burg Beeskow einen Vortrag zu den Kriegsenkeln – als Auftakt zu einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe. Es folgen ein Doku-Theaterstück über die Nachfahren der Vertriebenen dies- und jenseits der Oder am 22. Oktober und ein Workshop „Biografisches Schreiben und Schreibtherapie“ am 21. November von 15 bis 18 Uhr in der Alten Schule.


Wie es zu dieser Reihe kam und was die Gäste am Mittwoch beim Vortrag erwartet, haben wir mit Sabine Bode und dem Pfarrer Frank Städler als Vertreter des Veranstalters besprochen.


Herr Städler, was gab den Ausschlag für Ihre Kirchengemeinde, sich dem Thema Kriegsenkel in einer öffentlichen Veranstaltungsreihe zu widmen?

Frank Städler: Die Journalistin Merle Hilbk, die in Beeskow lebt, hat diese Reihe gemeinsam mit uns geplant. Sie hat ja selbst vor einiger Zeit einen Teil ihrer Familiengeschichte für eine Radiosendung aufgearbeitet, vielleicht war das einer der Impulse. Ich selbst kenne die Bücher von Sabine Bode natürlich, und ich kenne viele Familiengeschichten aus meiner Arbeit als Pfarrer – eigentlich seitdem ich als Pfarrer arbeite. Hier in der Region Beeskow ist es nun so, dass ich beispielsweise bei jeder zweiten Beerdigung höre, dass der Verstorbene jenseits der Oder geboren wurde. Da spielen Krieg, Vertreibung und Fluchtgeschichten natürlich immer eine Rolle. Inzwischen ist es so, dass diese Generation selbst kaum Erinnerungen an den Krieg hat, aber an die Folgen davon, also an die Flucht und die ersten Jahre in der neuen Heimat.


Frau Bode, Sie beschäftigen Sich seit Jahrzehnten mit dem Thema Kriegskinder und Kriegsenkel: Warum ist es heute immer noch so aktuell? Warum ist noch nicht alles auserzählt?

Sabine Bode: Ich habe Anfang der 1990er Jahre angefangen, mich damit zu beschäftigen. Das war ein Produkt des Mauerfalls, denn mir wurde klar: Wir müssen auch auf die Sachen schauen, die in unseren Familien passiert sind. Parallel tobte der Krieg in Jugoslawien. Deshalb trieb mich die journalistische Frage um: Wie geht es den Kriegskindern? Was macht der Krieg, dieses ganze Leid, mit den Menschen? 2004 ist dann das Buch „Die vergessene Generation“ erschienen. Das Buch verkaufte sich zunächst nicht so stark. Aber die Menschen haben es weitergereicht, sich gegenseitig empfohlen. Ab 2013 hat es sich dann rasant verkauft. Dafür gab es keinen äußeren Anlass – ich glaube, die Zeit war einfach dafür reif.


Im Osten war es, glaube ich, so, dass es anfangs noch ganz andere Themen gab. Zum Vergleich: In Westdeutschland hatte ich bisher etwa 400 Veranstaltungen zu dem Thema, im Osten nur 20. In der letzten Zeit ist das Interesse aber auch hier gewachsen. Im Osten hatten die Fluchtkinder keine gemeinsame Stimme wie den Bund der Vertriebenen. Sie hatten ein schwieriges Leben – am Anfang ihres Berufslebens und am Ende auch. Denn sie mussten auch noch den Mauerfall verkraften. Ein Trauma folgte auf das nächste. Die Anpassung an das neue System war schwierig. Es ist wichtig, dafür Verständnis zu haben.


Worin genau äußert es sich, wenn die Erfahrungen der Kriegskindergeneration nicht weitererzählt werden?

Sabine Bode: Kinder sind im Prinzip neugierig: Sie stellen Fragen, wenn sie Ungereimtheiten spüren in der Familie. Wenn ein Sechsjähriger das Foto des gefallenen Bruders der Mutter sieht und darunter steht: ‚Humor ist, wenn man trotzdem lacht‘ – wie wird die Mutter reagieren? Wird sie weiter ihre Wäsche waschen, wird sie vom Bruder erzählen oder wird sie sagen: Was du alles so siehst? Solche Erfahrungen häufen sich dann: ob etwas erzählt wird oder nicht. Das trifft vor allem auf seelische Verletzungen zu. Versehrte Väter konnten ganz gut erklären, was ihnen passiert ist, und das Kind versteht: Papa hat eben ein Bein verloren. Aber den Eltern mit seelischen Kriegsverletzungen fällt das schwerer. Dann kommt es zu einer Verwirrung: Warum erzählen die Eltern nichts? Dadurch fehlt etwas vom kindlichen Grundvertrauen in die Erwachsenenwelt. Das betrifft etwa 30 bis 50 Prozent dieser Generation.


Heute wird dieses Schweigen, was in vielen Familien dominiert, allmählich aufgebrochen. Es ist eine Bereitschaft bei den Fluchtkindern da – und im Osten ist es ja hauptsächlich ein Fluchtkinderthema, wie Pfarrer Städler schon bemerkte. Das spricht sich jetzt viel schneller herum. Ich glaube, dass es allen Familien guttut, darüber zu reden. Denn wichtig ist, dass man als Kind versteht, dass man nicht schuld ist an der schlechten Beziehung zu den Eltern, und dass Eltern verstehen, dass sie es wegen der Umstände eben nicht besser vermocht haben.


Herr Städler hatte berichtet, dass sich viele Menschen ihm als Pfarrer öffnen. Warum finden die Erzählungen nicht in den Familien statt? Und hat sich da in den vergangenen Jahren etwas verändert?

Sabine Bode: Da die Kriegskinder es sozusagen nicht geübt haben, sich zu öffnen, testen sie das erst einmal bei einer fremden Person. Diese empfiehlt ihnen dann sicherlich – das wäre wünschenswert, dass sie dies auch einer nahstehenden Person erzählen. Aber das ist grundsätzlich so: Bevor man etwas, das einen verunsichert, der engsten Familie erzählt, offenbart man sich erst einmal entfernteren Verwandten oder Bekannten. Dann bekommt man schon eine erste Reaktion mit und kann sich besser darauf einstellen, welche Rückmeldungen man bekommen könnte.


Frank Städler: Dieses Ausprobieren hat sich meiner Erfahrung nach in den vergangenen Jahrzehnten kaum geändert. Früher waren die Erzählungen sicherlich noch stärker durch die Kriegserfahrungen geprägt, jetzt, eine halbe Generation später, sind es eher die Fluchterfahrungen. Es ist auch familiär sehr verschieden, wie intensiv man sich austauscht. Es gibt Familien, in denen wird viel erzählt. Anderswo tragen es die Älteren allein mit sich herum. Ich vermute, dass während der DDR-Zeit das Thema in den Familien nicht so präsent war und dass nach dem Mauerfall ein Deckel aufgemacht wurde. In 1990er Jahren sind ja viele Familien in die Heimatorte der Kriegskinder im heutigen Polen gefahren. Da ist dann vieles hochgekommen.


Nun werden in Beeskow die Kriegsenkel Thema sein. Wie gehen diese mit dem Thema um?

Sabine Bode: Wenn ihre Eltern noch leben und auskunftsfähig sind, dann können sie sie erzählen lassen. Es könnte aber auch sein, dass die Eltern sagen, sie möchten nicht darüber reden. Dann kann man in der Verwandtschaft herumfragen oder in Archiven. Die Kriegsenkel können auf die Art selbst versuchen, diese Geschichte klar zu bekommen. Wenn sie etwa erfahren, dass es da mal eine Vergewaltigung gab, dann verstehen sie vieles besser. Es ist ein großes Thema, und der entscheidende Punkt ist: zu sehen, dass Krieg und Vertreibung nicht aufhören, wenn der Krieg vorbei und man in der neuen Heimat angekommen ist, sondern dass das Erlebte, die Traumata nachhaltig die Beziehungen erschweren.


Sie, Frau Bode, haben diese ganzen Geschichten von Gewalt, Traumatisierung und Krieg aufgeschrieben. Was hat das bei Ihnen ausgelöst und wie schaffen Sie es, sich auch wieder davon zu abzugrenzen?

Sabine Bode: In der Tat: Ich habe mich dem Thema eigentlich journalistisch gewidmet, aber man merkt schnell, dass das auch viel mit einem selbst zu tun und mit uns als Nation. Ich glaube, dass kaum jemand mehr Familiengeschichten gehört hat als ich. Ich war eine der ersten, die sich damit beschäftigt haben. Es ist sehr wichtig, dass man immer wieder Abstand nimmt. Aber ich habe eben auch viel über meine Familie erfahren und viel gelernt.


Meine Eltern waren Kriegsgewinnler. Sie sind als junge Menschen in das überfallene Polen gezogen und haben dort Parteikarriere gemacht. Sie waren auf Linie und haben ihre Chance eben genutzt. Sie gehörten zur Elite von Oberschlesien und hatten dort von allem genug, waren anerkannt. Nach 1945 haben sie sich dann bei den Flüchtlingen eingereiht, obwohl sie ja ihre Heimat gar nicht verloren haben – sie hatten sie ja selbst einst in Richtung Polen verlassen. In meiner Familie hat sich also dieses deutsche Leid doch sehr klein eingeschrieben.


Der Umgang mit den Vertriebenen war im Westen anders als im Osten – im Westen bekamen sie bis in die 1970er Jahre sehr viel Aufmerksamkeit durch die Historiker. Als ich 21 Jahre alt war, haben mich die Vertriebenengeschichten nicht sehr interessiert. Ich hatte zunächst kein Mitleid, wenn Menschen von der Flucht erzählt haben. Das hat sich während meiner Arbeit geändert. Meine Empathie wurde geweckt, als ich erfahren habe, welche schrecklichen Fluchterfahrungen die Menschen auch gemacht haben und dass sie viel persönliches Leid erfahren mussten.


Hier in der Region, nämlich in Halbe, hat eine der größten Kesselschlachten des Zweiten Weltkriegs stattgefunden. Hier besteht eine noch aktive Kriegsgräberstätte. Das bedeutet, dass die kollektive Erinnerung recht präsent ist. Viele Schulklassen aus der Region kommen nach Halbe, es finden Zeitzeugengespräche statt. Wirkt sich das hilfreich auf die Gespräche in den Familien aus? Oder anders gefragt: Gibt es regionale Unterschiede in der familiären Aufarbeitung?

Sabine Bode: Ja, diese Unterschiede gibt es: Wenn die Erinnerungsorte in ehemaligen Konzentrationslagern sind, kann es sein, dass die Umgebung sich geschändet fühlt. Das habe ich bei München erlebt: In Dachau ist man empört, dass dieser Ort nur mit dem KZ assoziiert wird. Bei Kriegsgräberstätten ist das anders. Wenn man als Schüler dorthin kommt und sieht, dass die Gefallenen kaum älter waren als man selbst gerade, dann bewegt einen das sehr. Das stößt durchaus Familiengespräche an. Es ist aber nötig, über alle Teile unserer NS-Geschichte zu sprechen, auch über das, was in den Konzentrationslagern passiert ist.


Frank Städler: Durch solche Erinnerungsorte oder auch Lesungen werden hoffentlich viele angeregt, intensiver die eigene Verflochtenheit mit der Geschichte zu reflektieren. Das Thema ist so spannend und wichtig, denn man fragt sich ja immer, woher man kommt: Was haben die eigenen Eltern mitgemacht, waren sie dagegen – und wogegen genau? Ich hoffe, dass aus unserer Reihe ein Impuls entsteht.

 

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Veröffentlichung

Mo, 20. September 2021

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