Wie Europa in der Lausitz atmet

Er ist in Lübben aufgewachsen und hat dort sein Abitur gemacht. Als Philosoph kommt Lars Dreiucker zurück in die Lausitz – mit der „DenkBar“ des Lausitz-Festivals, wo Welten aufeinanderprallen: Europa auf die Lausitz, große Künstler auf Lausitzer Macher, hohe Bundesmittel auf kleine Kulturbudgets…


Von Dörthe Ziemer


Das 2. Lausitz-Festival ist in vollem Gange. Namhafte Künstler der Klassik-Szene und darüber hinaus wie die Pianistin Martha Argerich, der Geiger Gidon Kremer und die Schauspielerin Iris Berben geben sich in Lausitzer Konzerthallen, Theatern, Kinos und an ganz ungewöhnlichen Orten die Klinke in die Hand. Im Landkreis Dahme-Spreewald ist das Festival allerdings schon wieder vorbei, denn ein Programmpunkt hat am 26. August in der Luckauer Nikolaikirche stattgefunden.


Kaum mehr als eine Handvoll Gäste – von den mitreisenden Veranstaltern abgesehen – haben sich für den Gesprächsnachmittag unter dem Titel „DenkBar: Gottes Gebote und menschliche Befreiung. Was geschah am Berg Sinai?“ interessiert. Es mag an der frühen Zeit gelegen haben – 15 Uhr – oder an nicht ganz passgenauer Werbung. Oder daran, dass das Festival noch nicht angekommen ist in allen Ecken der Lausitz. Der Festival-eigene Podcast rührt eifrig die Werbetrommel, so u.a. mit zwei Folgen aus Luckau. Und auch sonst versucht das Festival präsent zu sein – in den Sozialen Netzwerken und den Medien zwischen Berlin und Zittau.


Indes hatte das Festival von Anfang an mit Kritik zu kämpfen. Es hat einen Etat von vier Millionen Euro, der sich hauptsächlich aus Bundesmitteln speist. Damit wird es etwa im selben Umfang gefördert wie die Bayreuther Festspiele – Geld, das aus Sicht einiger Lausitzer Kulturschaffender besser für die bestehenden und immer wieder um Fördermittel bemühte Lausitzer Festivals ausgegeben werden sollte. Das Festival bringe, heißt es in einer Pressemitteilung, „die Nieder- und Oberlausitz in performativen Austausch mit der Welt, um im lebendigen Strukturwandel ein Europa von Morgen zu formen, in dem den Grundfragen der europäischen Kultur im Lokalen der Lausitz nachgespürt wird, die wie keine andere Region für den Übergang steht“.


Wie das funktioniert und was die Gesprächsreihe „DenkBar“ und das Festival in der Lausitz auslösen sollen, haben wir mit Lars Dreiucker (Jahrgang 1983) besprochen, der in Lübben in der Niederlausitz aufgewachsen ist und nach dem Abitur Philosophie studiert hat.

 

Lars DreiuckerSie haben in Ihrer philosophischen Reihe gleich zweimal hier in der Niederlausitz das Thema Freiheit behandelt – vergangenes Jahr in Lübben und dieses Jahr in Luckau. Was interessiert Sie persönlich an dem Thema Freiheit – in Bezug auf die Lausitz?

Zunächst einmal finde ich es großartig, dass Christoph Menke und diese ganzen interessanten Denker wie Juliane Rebentisch, Christiane Voss, Mathias Böwetter, Thomas Khurana, Francesca Raimoni und Hans-Peter Krüger zugesagt haben, sich mit der Lausitz zu beschäftigen. Die gesamte philosophische Runde der „DenkBar“ kann man als Experimentierraum des Denkens von Freiheit in der Lausitz betrachten, und ich freue mich, dass ich als Kurator diesen Raum bauen durfte.

In Luckau ging es ja um Gehorsam und Befreiung. Christoph Menke schreibt gerade an einem Buch, das „Befreiung“ heißt und die Frage untersucht, ob man durch Gehorsam und das Befolgen von Geboten überhaupt eine bestimmte Form der Freiheit erfahren kann. Wie soll man also, wenn man diesseitig gehorchte, jenseitig Freiheit erfahren? Interessant finde ich, dass er das als Aushandlungsprozess beschreibt – und das sind gleich zwei Dinge, die unfertig sind: Aushandlung und Prozess. In diesem Spannungsfeld entsteht Freiheit. Man kann sie nicht rechtlich verankern oder irgendwo festschreiben, sondern sie ist immer ein Arbeitsprozess. Anders gesagt: Man kann niemandem einen Kelch geben, in dem Freiheit enthalten ist.

 

Der Freiheitsbegriff wurde in diesem Jahr unter dem Blickwinkel der Religion diskutiert: „Gottes Gebote und menschliche Befreiung“. Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht Religion und Glauben in der Lausitz – vielleicht auch historisch betrachtet?

Das kann ich gar nicht sagen, ich bin relativ sozialistisch geprägt. In unserer Familie spielte Religion keine Rolle. Nun bin ich schon so lange weg und kann das nicht wirklich beurteilen. Ich weiß aber, dass es von Görlitz bis Lübben so viele schöne und neu belebte Kirchen gibt, das ist beeindruckend. Hinzu kommt: Die Menschen glauben ganz sicher, egal an was. Der Mensch glaubt, das ist eine Konstante. Oder wie Christoph Menke in Luckau sagte: An den Unendlich Anderen glaubt man sowieso, egal, wie man ihn nennt: Gott, Gottschalk oder Beethoven.

 

Sie sind im vergangenen Jahr mit Ihrer Reihe quer durch die Lausitz gereist – welche Sichtweisen zur Freiheit haben Sie vorgefunden?

In den vergangenen 20 Jahren hat sich viel bewegt. Dass ich weggegangen bin, hatte nicht nur den Grund, dass man in Lübben nicht studieren kann. Es gab damals viel konservatives Brachland, wenige Leute, die etwas bewegt haben, und viele, die mit progressiver linker Kultur nicht viel am Hut hatten. Ich glaube, das hat sich geändert. Jetzt, seitdem ich wieder öfter hier bin, habe ich viele Menschen getroffen, die gleich nach dem Studium wieder zurückgekommen sind, die etwas bewegen wollen, die Netzwerke knüpfen, die sich – auch in Parteien – einmischen in der Region. Die Leute sind nicht mehr so auf verlorenem Posten. Es gibt eine größere Pluralität, eine Vielfalt von Meinungen. Meine Jugend in Lübben war übrigens stark mit dem Club Nevermind verknüpft, mit Ivo Heider und Ilka Gelhaar-Heider. Das sind Menschen, die engagiert sind ohne karrieristische Idee. Denen kann ich nur dafür danken, dass es diesen Ort gab, an dem sich viele politisiert haben. Ohne solche Orte kommt auch die Provinz nicht aus.

 

Was geschah Mose am brennenden Dornbusch? Das war Thema der DenkBar in der Luckauer Nikolaikirche - das dazu passende Gemälde wurde zum Abschluss angeschaut. Foto: Dörthe Ziemer

 

Menschen, die in der Lausitz aufgewachsen sind – vor allem die älteren Generationen, haben verschiedene Erfahrungen von Unfreiheit gemacht. Wie betrachten Sie die aktuellen Sichtweisen mancher zur Meinungsfreiheit, die heute genauso oder gar stärker beschränkt sein soll als zu DDR-Zeiten?

Ich verstehe, dass es ein grundsätzliches Empfinden eines Abgehängtseins gibt, auch gerade nochmal durch den Strukturwandel. Aber es hat sich in den vergangenen 20 Jahren viel bewegt: Finanziell geht es vielen besser. Das heißt aber noch nicht, dass es ihnen von der Stimmung her besser geht. Man kann auf Bali Urlaub machen und sich trotzdem abgehängt fühlen. Allerdings kann ich nicht verstehen, wie man sich als Opfer fühlen kann, obwohl man in einer privilegierten Dominanzkultur lebt. Ich verstehe nicht, wie man sich in einem Land wie Deutschland benachteiligt fühlen kann.

Deshalb finde ich dieses Gebot, das wir ja auch in Luckau besprochen haben, so wichtig: Du sollst kein Gleichnis haben. Das ist doch der Anfang allen Übels: Wenn man sich ein Bild vom Nachbarn macht und sieht, es ist irgendwo anders goldener. Viele Menschen haben die Tendenz, eine Grenze zu ziehen und auf die andere Seite zu schauen. Das ist auf der psychologischen Ebene nachvollziehbar, aber auf der strukturellen schwierig. Ich hoffe darauf, dass die Leute verstehen, dass Vielfalt immer besser ist, und dass man dieses Gebot annimmt. Man solle sich so fühlen, als wäre man ein Sklave gewesen und jetzt befreit. Um diesen Perspektivwechsel sollte man sich bemühen: etwa, was es bedeutet, in Deutschland anzukommen, eine andere Hautfarbe oder eine andere Religion zu haben. Wenn wir uns in die Perspektive anderer hineinversetzen, können wir uns in Toleranz üben.

 

Sie haben für Ihr Studium die Lausitz verlassen. Sie haben Philosophie studiert – also ein Handwerkszeug zum Denken erlernt, mit dem Sie aus einer höheren, abstrakteren Ebene auf die Dinge blicken. Wie schauen Sie heute damit auf die Lausitz?

Ich schaue skeptisch und optimistisch zugleich auf die Region. Und das kann ich mit diesem Handwerkszeug, das ich zwischen Dublin, Potsdam, Berlin, Paris und Tel Aviv erworben habe, sehr gut: Krisis („Entscheidung“) kann man als Grenze beschreiben, als einen Ort, an dem man etwas versteht, wo etwas passiert.

In der Lausitz entsteht gerade ganz viel Neues. Wir müssen schauen, dass wir mit einer Offenheit die Grenzen überschreiten, also mit Transzendenz. Das ist besser als sich immanent auf eine Identität zu einigen. Die Lausitz muss verstehen, dass in ihrer Vielfalt ihre Stärke liegt. Vielfalt ist – wie übrigens auch die Freiheit – ein Aushandlungsprozess. Die Menschen müssen verstehen, wie kostbar ihr Vor-Ort-Leben ist und verstehen, dass es besser wird, wenn man sich Einflüsse von außen holt. Die dezentrale Position der Lausitz ist eine unglaubliche Möglichkeit, durch Vielfalt zu lernen. Das stimmt mich hoffnungsvoll, sonst wäre ich nicht hier.

 

Das Lausitz-Festival weist relativ wenige Bezüge zu den Sorben/Wenden auf. Welche Bezüge haben Sie als Lübbener zur sorbischen/wendischen Kultur und Sprache?

Ich könnte jetzt biografisch antworten oder kulturpolitisch. Ich versuche letzteres: Durch die verschiedenen Festivalorte in der Oberlausitz haben wir zu lokalen sorbischen Trägern Kontakt aufgenommen, aber das muss sich über Jahre aufbauen. Die Sorben sind generell unterrepräsentiert in der Wahrnehmung in Deutschland. Die sorbische Kultur ist unglaublich kostbar, wird aber nicht angemessen wahrgenommen.

Wir versuchen jetzt, etwas dazu beizutragen, dass das besser gelingt. Dass die mystische slawische-wendische Kultur reich an Schätzen ist und dass ohne diese Kultur die Gebrüder Grimm keinen Stoff für ihre Märchen gehabt hätten, steht für mich außer Frage.

 

Wie haben Sie die philosophischen Reihen für das Lausitz-Festival konzipiert? Von welchen Ideen ließen Sie sich leiten?

Was uns dieses Jahr wichtig war: Wie kommt man an die Menschen heran, die sonst nicht zu so einer Veranstaltung gehen? Wir haben versucht, eine Kombination zu machen: Dieses Jahr ist der Eintritt frei. Und wir gehen dorthin, wo die Leute sowieso schon sind, z.B. in die Fabriken. In Görlitz haben wir uns mit einer ganzen Belegschaft über Arbeitsrecht unterhalten. Dabei ist die Zusammenarbeit vor Ort ist unterschiedlich – es gibt viel Skepsis, aber auch viel Unterstützung. Wir erklären möglichen Partnern vor Ort, wie kostbar und nötig unsere Themen sind und bitten sie: Lasst uns in Eure Räume.

Dazu konnten wir dieses Jahr verschiedene Personen, die ich in der Philosophie wichtig finde, herholen. Im Cottbuser Piccolo-Theater etwa wird sich Thomas Khurana unter dem Titel „Ästhetik der Existenz“ mit den jugendlichen Schauspielern unterhalten: Was halten sie von Kunst? Wie entwirft sich ein Jugendlicher heute durch die ganzen virtuellen Möglichkeiten selbst? Das Ganze ist also ein neues Veranstaltungsformat: dorthin zu gehen, wo sich Menschen sowieso versammeln, sich aber nicht unbedingt für Philosophie interessieren. Mit ihnen zu sprechen, soll die Kraft von außerhalb erlebbar machen.

 

Was lösen Ihre Gesprächsreihe und das Festival in der Lausitz, aber auch darüber hinaus, aus?

In der Region hat es im vergangenen Jahr auf jeden Fall eine Überwältigung ausgelöst, weil nicht klar war, was kommen würde. Es war ja auch der kurze Zeitraum, in dem zwischen den Lockdowns überhaupt Veranstaltungen möglich waren. Die Leute konnten das kaum glauben. Natürlich hat das Festival mit Skepsis zu kämpfen. Aber wenn die Leute verstehen, dass mehr Menschen aus der Region eingebunden sind, wird sich das ändern. Das ist uns wichtig.

Die hohe Qualität des Programms und der Künstler reißt indes jeden mit. In der Gesprächsreihe ging es so viel um Freiheit und Lausitz, dass man verstanden hat, dass die europäische Kultur in der Lausitz atmet. Zwischen Moskau und Santiago de Compostella ist die Lausitz die Mitte – nicht nur geografisch, sondern auch kulturell... Das ganze Europa kommt in der Lausitz vor. Dafür haben wir einen Anfang gesetzt.

 

Letzte Frage: Sie sind in Lübben aufgewachsen und haben dort Ihr Abitur gemacht. Sind Sie Lausitzer, Niederlausitzer, Lübbener, Brandenburger, Europäer…?

Ich wohne in Berlin-Lichtenberg und fühle mich wohl in der westlichsten Metropole Osteuropas. Ich fühle mich als Lausitzer – und mache keinen Unterschied zwischen Nieder- und Oberlausitz. Die Lausitz ist ein europäisches Prinzip. Da fühle ich mich zu Hause. Wenn Europa in der Lausitz vorkommt, dann bin gern Lausitzer.

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Veröffentlichung

Mo, 06. September 2021

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